Diesmal spreche ich mit Prof. Tim Friede über evidenzbasierte Medizin und welche Bedeutung sie konkret für Menschen mit MS hat. Tim Friede gehört zu den führenden Experten auf diesem Gebiet und arbeitet an vielen Studien mit, bei denen er sein Know-how in medizinische Statistik einbringt. Das reicht von klinischen Studien zu verlaufsmodifizierenden Therapien über Auswertungen anderer Fragestellungen wie der Schubhäufigkeit von MS-Patientinnen nach der Entbindung bis hin zur Effektivität von symptomatischen Therapien bei MS und vieles mehr. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in innovativen Studiendesigns, um flexibel reagieren zu können und Zeit und Ressourcen optimal zu nutzen. Das Interview kann Dir dabei helfen, besser zu verstehen, was evidenzbasierte Medizin bedeutet, damit Du zukünftig nicht nur der Einschätzung anderer vertrauen musst, wenn Dir eine Studie vorgelegt wird, sondern selbst etwas davon verstehst.
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Inhaltsverzeichnis
Vorstellung – Wer ist Prof. Tim Friede?
Ich bin verheiratet und Vater von zwei (mittlerweile erwachsenen) Söhnen. Ich laufe gerne im Wald, der in Göttingen besonders schön ist.
Persönliche Motivation für Beruf?
Ich habe zunächst Mathematik studiert und bin durch einen Job während der Semesterferien in einem medizinischen Labor auf biostatistische Fragestellungen aufmerksam geworden. Daraus hat sich dann im Laufe der Jahre eine Leidenschaft für das Fach Biostatistik oder auch medizinische Biometrie entwickelt.
Grundlagen evidenzbasierter Medizin
Können sie uns in einfachen Worten erklären, was evidenzbasierte Medizin ist und warum sie in der MS-Behandlung wichtig ist?
Evidenzbasierte Medizin zielt darauf ab, die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern durch Entscheidungen in klinischer Praxis, die auf robusten, reproduzierbaren Daten beruhen.
In der MS gibt es inzwischen eine Reihe von erprobten Behandlungen. Hier ist es wichtig zu verstehen, was die Vor- und Nachteile im Sinne von Wirksamkeit und Sicherheit für einzelne Personen mit MS sind.
Warum ist es entscheidend, wissenschaftliche Beweise zu verwenden, um Entscheidungen über MS-Behandlungen zu treffen?
Als gelernter Mathematiker zögere ich hier den Begriff Beweis zu verwenden, da wir in der Mathematik mit einem Beweis einen unumstößlichen Beleg bezeichnen würden. In der empirischen Forschung in der klinischen Medizin haben wir es in der Regel mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Der Beleg für die Wirksamkeit und Sicherheit sollte nur eine sehr geringer Fehlerwahrscheinlichkeit haben; ganz ausschließen können wir irrtümliche Annahmen aber in der Regel nicht.
Neben mehreren explorativen klinischen Studien werden in der Regel auch zwei konfirmatorische Studien durchgeführt, die unabhängig voneinander die Wirksamkeit und Sicherheit der entwickelten Therapie belegen sollen.
Wie werden wissenschaftliche Studien und Forschungsergebnisse genutzt, um evidenzbasierte Empfehlungen für MS-Patienten zu entwickeln?cx
Fachgesellschaften und Netzwerke von Experten, in der Regel MS Neurologen unterstützt durch relevante andere Fachgebiete, führen die Evidenz zu einer klinischen Fragestellung zusammen und bewerten diese. Dieser Schritt wird auch als systematischer Review bezeichnet, in dem die wissenschaftliche Literatur systematisch durchkämmt und die Qualität der Studien anhand bewährter Fragebögen bewertet wird. Daraus werden dann Empfehlungen abgeleitet, die sogenannten Leitlinien.
Können sie uns einen kurzen Überblick zur Evidenzpyramide geben und erklären, warum es manchmal nur Beobachtungsstudien gibt und warum Meta-Analysen die höchste Evidenzqualität haben?
Am Sockel der Pyramide, also mit dem geringsten Evidenzgrad, befinden sich Fallberichte und Meinungen von Experten. Einen etwas höheren Evidenzgrad haben dann systematisch erhobene Fallserien, also nicht Berichte von einzelnen Patienten, sondern von mehreren. Richtig spannend wird es aber in der Regel erst, wenn in einer Studie Patientinnen und Patienten nicht alle die gleiche Therapie erhalten haben, sondern verschiedene Therapien verglichen wurden. Bei solchen vergleichenden Therapiestudien haben solche, bei denen die Patientinnen und Patienten zufällig den zu vergleichen Therapien zugeordnet wurden, besonderes Gewicht, da hier das Potential für Verzerrungen in der Bewertung der Therapien minimiert wird. Solche Untersuchungen werden als randomisierte kontrollierte Studien bezeichnet. Besonders hohes Gewicht geben wir hierbei großen randomisierten kontrollierten Studien und insbesondere auch gemeinsamen Auswertungen von mehreren randomisierten kontrollierten Studien, den besagten Metaanalysen.
Forschung und evidenzbasierte Praktiken
Was sind klinische Studien, und warum sind sie so wichtig, um evidenzbasierte Informationen über MS-Behandlungen zu erhalten?
Klinische Studien sind geplanten Experimente an von der Erkrankung oder den Symptomen betroffenen Patientinnen und Patienten zur Beurteilung von Verfahren der Diagnose, Prognose oder Therapie.
Warum ist die Verblindung aller Teilnehmer so wichtig, um die wirklichen Effekte zu messen?
Wir haben die zufällige Zuordnung zu den Behandlungen, also die Randomisierung, als eine wichtige Technik zu Vermeidung von verzerrten Beurteilungen genannt. Die sogenannte Verblindung ist eine weitere, hier wissen während der laufenden Studien weder die behandelnden Ärztinnen und Ärzte noch die Patientinnen und Patienten, welche Therapie im Einzelfall zur Anwendung kommt. Die ist besonders wichtig, wenn die Beurteilung des Behandlungserfolgs durch Arzt oder Patient einer gewissen Subjektivität unterliegt, z.B. bei der Anwendung von Fragebögen.
Welche Rolle spielen Richtlinien und Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften bei der evidenzbasierten MS-Behandlung?
Die klinischen Leitlinien spielen eine wichtige Rolle, da sie die Umsetzung der in der klinischen Forschung generierten Ergebnisse in die klinische Praxis bedeuten.
Wie können MS-Patienten die Qualität und Verlässlichkeit von Informationen, die sie finden, beurteilen, um fundierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen?
Randomisierung und Verblindung sind bewährte Techniken in der Durchführung von klinischen Studien, um das Verzerrungspotential in der Beurteilung von Wirksamkeit und Sicherheit einer Therapie zu minimieren. Deshalb sind sie auch wichtige Indikatoren für Qualität und Verlässlichkeit. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von anderen Qualitätsindikatoren wie z.B. die Größe der Studien oder auch die Vollständigkeit der berichteten Daten. Darüber hinaus sollte man sich auch Fragen, ob die Studien wirklich relevant sind, weil sie z.B. auch Patientinnen und Patienten mit typischen Charakteristiken beinhalten und die Bewertung der Therapien anhand von relevanten Merkmalen durchgeführt wurde (z.B. klinische Ereignisse wie Schübe oder Lebensqualität).
Anwendung der Evidenz in der Praxis
Können sie uns Beispiele für evidenzbasierte MS-Behandlungen und -Strategien geben, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen?
In den 1990er Jahren wurden die Interferone zur Behandlung der MS getestet. Dies stellt sicherlich einen Meilenstein dar. Danach folgte die klinische Entwicklung einer Fülle von Therapien die verschiedene Aspekte der MS betreffen, z.B. zur Vermeidung von Schüben sowie zur Verzögerung des Fortschreitens der Behinderung oder auch der Behandlung von Symptomen wie Schmerz, Depression oder Fatigue. Unter Therapien verstehen wir hier häufig Arzneimittel, aber sie können auch in anderem Gewandt daherkommen, wie z.B. sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen wie Apps oder Onlineanwendungen. Hier gibt es auch Anwendungen zur Symptombehandlung in der MS.
Was sind die Herausforderungen bei der Anwendung evidenzbasierter Medizin in der MS-Behandlung? Wo liegen die Grenzen?
Häufig müssen Annahmen zur Übertragbarkeit von Behandlungseffekten gemacht werden, z.B. von Patientinnen und Patienten, die in randomisierten kontrollierten Studien in Unikliniken vor zehn Jahren untersucht und behandelt wurden, auf Patientinnen und Patienten wie sie heute in einer Schwerpunktpraxis oder einem Rehazentrum anzutreffen sind. Naturgemäß können wir nicht alles und immer wieder in großangelegten Studien verifizieren.
Fortschritte und individuelle Anpassung
Wie entwickelt sich die evidenzbasierte Medizin im Kontext der Multiplen Sklerose ständig weiter? Stichworte: Patient reported outcomes und progrediente MS.
Da sprechen Sie relevante und aktuelle Themen an. Die aktive Partizipation von Patientinnen und Patienten an der Planung, Durchführung und Interpretation von klinischen Studien hat in Deutschland deutlich an Fahrt aufgenommen. Ein Beispiel ist die Wahl von Endpunkten, also Maßen zur Beurteilung des Therapieerfolges, die für Patienten und Patienten relevant sind. Warum also nicht direkt die betroffenen fragen, wie Sie mit der Behandlung zufrieden sind? Hierfür wurden Fragebögen entwickelt, diese werden auch als Patient Reported Outcomes bezeichnet. Heute kann das vielfach auch digital passieren, z.B. durch Apps auf dem Smartphone.
Als ich vor gut 15 Jahren noch in Großbritannien als Statistiker tätig war, nämlich an der Warwick Medical School, da war ich an einem Projekt beteiligt, dass durch die UK MS Society initiiert worden war und das zum Ziel hatte, klinische Forschung im Bereich der progredienten MS zu stimulieren. Über die letzten Jahre sind wir da nun deutlich vorangekommen, nehmen Sie z.B. die derzeit laufende OCTOPUS Studie in der progredienten MS, in der mehrere Therapien gleichzeitig in einem adaptiven Design evaluiert werden.
Wie können MS-Patienten aktiv nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und evidenzbasierten Empfehlungen suchen?
Es gibt im Internet einige Ressourcen hierzu. Zum Beispiel werden Studien in sogenannten Registern klinischer Studien registriert. So kann man z.B. herausfinden, wo gerade welche Studien laufen. Zu den bekanntesten Registern dieser Art zählt clinicaltrials.gov aus den USA. Es gibt aber auch ein deutsches Register klinischer Studien, das DRKS, welches aus Freiburg heraus betrieben wird.
Zudem bietet z.B. die Cochrane Collaboration auch Laien verständliche Zusammenfassung von systematischen Reviews an. Schauen Sie doch einfach mal bei Cochrane Deutschland auf die Homepage. Dort finden Sie Cochrane Kompakt, eine Kooperation der Cochrane Standorte in Deutschland, der Schweiz und Österreich.
Wie gut lassen sich Gruppeneffekte auf individuelle PatientInnen übertragen?
Ein Vorwurf, den man der Statistik manchmal macht, ist, dass sie sich immer nur um den Mittelwert bemüht aber die einzelnen vernachlässigt. Das ist allerdings etwas kurz gedacht. Zunächst einmal stellt man sich häufig die Frage, ob Effekte im Mittel über Patientinnen und Patienten nachweisbar sind. Ist dies der Fall, dann stellt sich aber in der Regel auch gleich die Frage, ob dieser Effekt gleichmäßig für alle gilt oder ob bestimmte Subgruppen besonders profitieren (oder evtl. auch Schaden nehmen).
Verabschiedung
Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?
Evidenzbewertung beginnt häufig mit einem gesunden Menschenverstand. Wenn Ergebnisse sich zu gut anhören, um wahr zu sein, sind sie es häufig leider auch … Trauen Sie sich eine eigene Bewertung zu!
Wo findet man sie und ihre wissenschaftlichen Arbeiten im Internet?
Zum Beispiel auf der Homepage unseres Instituts unter https://medstat.umg.eu/
Vielen Dank an Prof. Friede für seine Erläuterungen zur medizinischen Statistik. Ich freue mich, wenn Du nun etwas genauer hinschaust oder sogar nachfragst, wenn dir die nächsten Daten präsentiert werden.
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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