Diesmal dreht sich alles um das Thema „Shared Decision Making“ (SDM) – eine Methode zur verbesserten Arzt-Patienten-Kommunikation, die besonders bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) entscheidend sein kann. Mit Dr. Jens Ulrich Rüffer, einem erfahrenen Experten für Patientenaufklärung und Lebensqualität, besprechen wir, wie SDM dazu beitragen kann, Patienten aktiv in Therapieentscheidungen einzubinden und ihre Gesundheitskompetenz zu stärken. Erfahre, wie SDM funktioniert, welche Vorteile es bietet und welche Rolle neue Technologien und KI dabei spielen können, den Gesundheitsalltag zu erleichtern und auf die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen abzustimmen.
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Inhaltsverzeichnis
Vorstellung – Wer ist Dr. Jens Ulrich Rüffer?
Nele von Horsten: Hallo Uli, ich freue mich riesig, dass du heute hier bist und mein Gast bist. Und ja, begrüße dich herzlich in meinem Podcast. Zum Start wäre es toll, wenn du dich den Hörerinnen und Hörern kurz vorstellen könntest, damit alle wissen, wen ich heute als Gast habe.
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Hallo Nele, vielen Dank für die Einladung! Mein Name ist PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer. Ich bin Arzt und Onkologe und habe zehn Jahre an der Uniklinik Köln gearbeitet. Schon früh habe ich meinen Schwerpunkt darauf gelegt zu erforschen, wie Behandlungen die Menschen über die biologische Ebene hinaus beeinflussen. Mich interessiert sehr, welche psychischen Belastungen und Herausforderungen die PatientInnen erleben. Deshalb habe ich mich intensiv mit dem Thema Lebensqualität auseinandergesetzt. Schließlich bin ich zur Patientenaufklärung und -kompetenz gelangt, was mich letztlich zum Konzept des Shared Decision Making (gemeinsame Entscheidungsfindung) führte. Das ist heute mein Hauptanliegen, denn ich möchte dieses Vorgehen in Deutschland zur Standardversorgung machen. Viele ÄrztInnen glauben, sie praktizieren Shared Decision Making bereits, aber in der Realität wird der Prozess oft nicht vollständig verstanden.
Persönliche Motivation für Beruf?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig in die Medizin „hineingestolpert“. Ursprünglich hatte ich ganz andere Ideen, doch letztlich hat es mich hierher verschlagen. Am Anfang habe ich mich mit der Rolle schwergetan, aber in der Onkologie habe ich schnell meine Berufung gefunden. Über die Jahre wurde mir klar, dass das starre System es oft schwierig macht, die intensiven, flexiblen Beziehungen zu pflegen, die ich zu den Menschen haben möchte. Deswegen habe ich mich entschieden, das System zu verlassen und mich freier mit dem Thema Patienteninformation und -mitbestimmung zu beschäftigen. Ich habe festgestellt, dass ein stärker einbezogener Patient bessere Behandlungsergebnisse erzielt, doch das System unterstützt diesen kollaborativen Ansatz oft nicht.
Grundlagen von Shared Decision Making
Kannst du erklären, was genau Shared Decision Making (SDM) ist und wie es sich von herkömmlichen Entscheidungsprozessen in der Arzt-Patienten-Kommunikation unterscheidet?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Shared Decision Making ist im Grunde ganz einfach: Es geht darum, gemeinsam auf Augenhöhe zu entscheiden. Damit das funktioniert, muss der Patient über die Krankheit, die Behandlungsmöglichkeiten sowie deren Vor- und Nachteile umfassend informiert sein. So kann er die Entscheidung in Relation zu seinen eigenen Lebensumständen und Werten treffen. Zum Beispiel ist eine ambulante Behandlung für jemanden besser geeignet, der eine starke Angst vor Krankenhäusern hat, wenn eine ambulante und stationäre Behandlung zur Auswahl stehen. Auch der Arzt muss die Präferenzen des Patienten kennen, um die richtige Empfehlung zu geben. Fehlt dieser Austausch, kann Shared Decision Making nicht stattfinden. Leider zeigen Studien, dass echtes Shared Decision Making immer noch selten passiert, obwohl viele ÄrztInnen glauben, sie praktizieren es bereits. Diese Diskrepanz zu überwinden ist eine Herausforderung.
Vorteile des Shared Decision Making
Wie profitieren sowohl Patienten als auch Ärzte von der Anwendung von SDM, gerade auch bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Shared Decision Making bringt Vorteile für beide Seiten. ÄrztInnen sind oft frustriert, wenn PatientInnen nicht an den gemeinsam erstellten Behandlungsplan halten. Wenn die PatientInnen jedoch verstanden haben, warum eine Behandlung für sie sinnvoll ist und sich für diese entschieden haben, steigt die Therapietreue. Dadurch nähern sich die Behandlungsergebnisse eher den positiven Resultaten aus klinischen Studien an. Für PatientInnen bedeutet es realistischere Erwartungen an den Therapieerfolg, und für ÄrztInnen erleichtert es die Arbeit, wenn klar ist, dass die vereinbarte Behandlung eingehalten wird. Shared Decision Making sorgt also für mehr Effektivität und Zufriedenheit auf beiden Seiten.
Warum Shared Decision Making an Bedeutung gewinnt
Warum wird SDM in der modernen Medizin zunehmend wichtiger?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Es gewinnt an Bedeutung, weil wir Ressourcen sinnvoller nutzen müssen, darunter nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch das „Humankapital“ – also die Fachkräfte im Gesundheitswesen. Shared Decision Making hilft dabei, dass PatientInnen genau die Behandlung erhalten, die sie benötigen, und auch nur das Ausmaß an Behandlung, das wirklich notwendig ist. Dies kann unnötige Überversorgung reduzieren, die manchmal aus Sicherheitsgründen oder durch Routinen entsteht. Beispielsweise bei Nachsorgeuntersuchungen: Viele PatientInnen empfinden die Nachsorge als sehr belastend. Wenn weniger, dafür aber gezieltere Untersuchungen durchgeführt werden, verbessert das die Patientenversorgung und schont gleichzeitig die Ressourcen.
Herausforderungen bei der Implementierung von Shared Decision Making
Warum ist es so schwierig, ein langfristig funktionierendes SDM-System zu etablieren?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Es gibt hunderte Studien, die die Vorteile von Shared Decision Making aufzeigen, doch das Problem liegt oft in der nachhaltigen Umsetzung. In der Vergangenheit wurde es meist nur in bestimmten Settings getestet und anschließend wieder zurückgestellt. Das System in Kiel, das wir mit Hilfe des Innovationsfonds umsetzen konnten, ist bislang am erfolgreichsten. Dort haben wir alle Strukturen geschaffen, um das Shared Decision Making nachhaltig zu verankern – von der Schulung neuer ÄrztInnen über bereitgestellte PatientInnen bis hin zu Decision Coaches. Doch so ein System braucht auch Überzeugung und den Willen, die Vorteile wirklich zu nutzen.
Notwendige Tools und Technologien für Shared Decision Making
Welche Tools und Technologien sind erforderlich, um SDM effektiv umzusetzen?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Wir haben in Kiel vier Interventionen verwendet. Erstens werden alle PatientInnen sensibilisiert, indem sie ermutigt werden, im Arztgespräch drei Fragen zu stellen: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gibt es? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treten diese bei mir auf? Zweitens bieten wir Entscheidungshilfen an, die den PatientInnen webbasiert zur Verfügung stehen. Sie können sich zu Hause informieren und ihre Präferenzen festhalten, die sie dann mit zum Gespräch bringen. Drittens erhalten alle ÄrztInnen ein Training, das sie auf Shared Decision Making vorbereitet. Viertens haben wir Decision Coaches ausgebildet, meist Pflegekräfte, die die PatientInnen zusätzlich unterstützen. Mit diesen vier Maßnahmen konnten wir die Gesundheitskompetenz und Zufriedenheit der PatientInnen in Kiel signifikant steigern und sogar die Kosten durch weniger Notfalleinweisungen senken.
Kann man bei SDM die Verantwortung komplett an das medizinische Fachpersonal übergeben, wenn man nicht selbst mitentscheiden möchte?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Oft sagen KollegInnen, ja, aber die PatientInnen wollen doch, dass ich für sie entscheide. Und das ist völlig in Ordnung. Natürlich muss es möglich sein, dass PatientInnen nicht alles im Detail selbst entscheiden müssen. Was ich als Arzt aber tun kann, ist klarzustellen: Wenn wir den Weg so gehen, erhalten Sie die bestmögliche medizinische Versorgung. Aber ich weiß nicht, ob diese Behandlung wirklich zu Ihrem Leben und Ihren Bedürfnissen passt. Ich würde nach medizinischen Gesichtspunkten wählen, was ich für am besten halte, kenne jedoch nicht immer Ihre persönlichen Vorlieben. Wenn Sie damit einverstanden sind, ist alles bestens, und ich übernehme gerne die Verantwortung. Das wäre trotzdem Shared Decision Making, da die PatientInnen die Entscheidung bewusst in meine Hände legen.
Messung und Evaluation
Wie kann man messen, dass tatsächlich SDM stattfindet und nicht nur einseitige Entscheidungsprozesse?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Wir haben zwei Methoden genutzt, um Shared Decision Making (SDM) zu messen. Die erste Methode war ein Fragebogen namens PICS (Passiv-Involvement in Clinical Decision Making), der den PatientInnen vor und nach dem SDM-Prozess vorgelegt wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass PatientInnen, die den SDM-Prozess in Kiel durchlaufen haben, deutlich mehr Beteiligung und SDM-Erfahrungen angaben.
Die zweite Methode bestand aus Gesprächstrainings für Ärzt:innen: Sie absolvierten ein einstündiges Online-Training, nahmen Patientengespräche auf, die dann bewertet und in zwei Feedback-Sitzungen à anderthalb Stunden reflektiert wurden. Wir dokumentierten die Veränderungen im SDM-Verhalten der ÄrztInnen und führten in einigen Kliniken sechs Monate später erneute Aufnahmen durch. Die Ergebnisse zeigten, dass das trainierte Verhalten beibehalten wurde und die SDM-Qualität signifikant gestiegen war. So konnten wir belegen, dass die gesamte Klinik den SDM-Ansatz erfolgreich umsetzt.
Welche Kriterien oder Messgrößen können verwendet werden, um den Erfolg von SDM zu bewerten?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: „Wir reduzieren die Messungen, da der Aufwand groß ist und wir bereits nachgewiesen haben, dass SDM wirkt. In Folgeprojekten, z. B. an allen bayerischen Unikliniken und an der Uniklinik Aachen, erfassen wir weiterhin die Wahrnehmung der PatientInnen vor und nach SDM sowie das Gesprächsverhalten der ÄrztInnen mit dem Instrument MAPIN. Zusätzlich messen wir Aspekte wie die Zufriedenheit des medizinischen Personals. Hinweise aus anderen Ländern zeigen, dass Kliniken mit SDM-Ansätzen möglicherweise weniger Burnout beim Personal haben. Dies versuchen wir ebenfalls zu beobachten.
SDM als komplexe Intervention wissenschaftlich zu begleiten, erfordert erhebliche Ressourcen. Unser Ziel ist es, durch solide Daten eine politische Entscheidung zu erreichen, damit SDM als GKV-Leistung anerkannt und vergütet wird. Dafür benötigen wir noch mehr belastbare Daten, aber der Fortschritt ist vielversprechend.
Rolle der Künstlichen Intelligenz
Wie kann Künstliche Intelligenz (KI) dabei helfen, den SDM-Prozess zu unterstützen?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: KI bietet viele Möglichkeiten, zum Beispiel durch maßgeschneiderte Informationen für PatientInnen oder Unterstützung in der Arzt-Patienten-Kommunikation. KI kann Gespräche analysieren und erkennen, ob die PatientInnen alles verstanden haben. Sie könnte auch dabei helfen, die Flut an Informationen für PatientInnen besser zu strukturieren und das Verständnis zu fördern. Ein empathischer Chatbot könnte die Fragen der PatientInnen aufnehmen, ordnen und dabei helfen, echte Gesundheitskompetenz aufzubauen. Wichtig ist jedoch, dass das Gesundheitssystem die Verantwortung übernimmt, den PatientInnen dabei zu helfen, kompetenter zu werden.
Blitzlicht-Runde
Vervollständigen den Satz: „Für mich ist Shared Decision Making…“
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Die Zukunft der Medizin, weil sie sicherstellt, dass wir die Ressourcen so verteilen, wie sie es brauchen und dann die Menschen auch zufrieden aus diesem Prozess rausgehen.
Welchen Durchbruch in der Umsetzung von Shared Decision Making wünschst du dir in den kommenden fünf Jahren?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Ich wünsche mir, dass wir die Menschen, die verantwortlich sind, im vollen Umfang die Potenziale von Shared Decision Making sehen und auch sehen, dass da kein Weg dran vorbeigeht. Der Patient ist im Mittelpunkt und das wird sich nur erreichen, wenn das mehr als eine Floskel sein soll, dann muss ich es implementieren und da muss es auch in dem Medizinsystem stattfinden und dann kann ich die Ressource Patient, das sage ich immer, optimal einsetzen, denn das ist eigentlich der Gamechanger.
Welche Internet-Seite kannst du zum Thema Shared Decision Making empfehlen?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Da gibt es natürlich eine Menge, aber wir von Share2Care, so heißt unsere Initiative, da kann man bei share-to-care.de sich informieren über unsere Aktivitäten. Da gibt es auch weiterführende Literatur im großen Umfang, was man sich angucken kann, deutsch-englischsprachige Literatur. Also da sollte man eigentlich, finde ich, ein gutes Bild über die Situation von Shared Decision Making, insbesondere von Shared Decision Making in Deutschland bekommen.
Verabschiedung
Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Vielen Dank, dass ich hier mein Herzensthema teilen durfte. Ich hoffe, Sie nehmen etwas mit und setzen sich dafür ein, dass Shared Decision Making in Deutschland zur Standardversorgung wird. Nur gemeinsam können wir Widerstände überwinden und eine patientenzentrierte Versorgung erreichen. Unser Ziel ist es, künftigen PatientInnen eine noch bessere Behandlung zu ermöglichen und den Menschen stärker ins Zentrum des Gesundheitssystems zu stellen.
Wo findet man dich im Internet?
PD Dr. med. Jens Ulrich Rüffer: Über Share-to-Care kann man mich und mein Team in Köln jederzeit erreichen. Anfragen werden gerne beantwortet, Gesprächstermine können vereinbart werden, und wir stehen für einen Dialog offen.
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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