#286: Was tun bei spät diagnostizierter SPMS mit Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz

Die Diagnose „sekundär-progrediente Multiple Sklerose“ (SPMS) trifft viele Menschen spät im Leben, oft nach Jahrzehnten mit einer schubförmigen MS. Wie geht man mit dieser veränderten Krankheitsphase um? Was ist der richtige Ansatz, wenn man überhaupt erst frisch die Diagnose SPMS erhalten hat? Welche Behandlungsoptionen gibt es? Und was bedeutet diese Diagnose für den Alltag und die Therapieplanung?

In dieser Folge spreche ich mit Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, dem Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen. Gemeinsam beleuchten wir, was SPMS ausmacht, welche immuntherapeutischen Ansätze auch bei spät diagnostizierter SPMS sinnvoll sein können und wie eine individuell abgestimmte Therapie zu mehr Lebensqualität beitragen kann.

Außerdem klären wir, welche symptomatischen Behandlungen bei fortschreitender Behinderung helfen, wie die neuesten diagnostischen Methoden eingesetzt werden und warum Bewegung, soziale Kontakte und Rehabilitation von Anfang an so wichtig sind.

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Inhaltsverzeichnis

Nele von Horsten: Hallo Herr Prof. Kleinschnitz, ich freue mich riesig, dass Sie heute mein Gast sind. Wir sprechen über SPMS, die sekundär-progrediente Multiple Sklerose. Bevor wir loslegen, stellen Sie sich doch bitte kurz vor, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer wissen, wer heute hier ist.

Vorstellung – Wer ist Prof. Christoph Kleinschnitz?

Vielen Dank für die Einladung, ich freue mich, dabei zu sein. Ich bin Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen. Ich habe in Würzburg studiert, dort meine Facharztausbildung gemacht und mich früh auf Neuroimmunologie und MS spezialisiert. Seit 2016 leite ich die Klinik in Essen, wo wir ein großes MS-Zentrum betreiben, sowohl ambulant als auch stationär.

Persönliche Motivation für den Beruf

Prof. Christoph Kleinschnitz: Meine Leidenschaft für die Neurologie entwickelte sich aus der Faszination für das menschliche Nervensystem und den Wunsch, komplexe Erkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) besser zu verstehen und effektiv zu behandeln. Während meiner Facharztausbildung in Würzburg kam ich früh mit der Neuroimmunologie und MS in Berührung. Besonders prägend war die Arbeit in der MS-Ambulanz, wo ich erleben konnte, wie positiv sich neue Therapien auf die Lebensqualität von PatientInnen auswirken. Die Kombination aus intensiver Patientenbetreuung, wissenschaftlicher Neugier und den therapeutischen Fortschritten hält meine Begeisterung für dieses Fachgebiet bis heute lebendig.

Beratung und Entscheidung zur Immuntherapie bei spät diagnostizierter SPMS

Was ist die sekundär-progrediente MS (SPMS)?

Die SPMS entsteht häufig aus einer schubförmigen MS. Über die Zeit nimmt die entzündliche Aktivität ab, und Prozesse wie Neurodegeneration und axonaler Untergang treten in den Vordergrund. Klinisch zeigt sich das oft in einer schleichenden Verschlechterung der Gehfähigkeit, zunehmender Fatigue, kognitiven Beeinträchtigungen oder Blasenfunktionsstörungen. Wir arbeiten daran, diese Prozesse besser zu verstehen und Therapien zu entwickeln, die gezielt ins zentrale Nervensystem eingreifen.

Was empfehlen Sie PatientInnen, die erst mit Mitte 50 oder später eine SPMS diagnostiziert bekommen haben, bezüglich einer Immuntherapie?

Auch im fortgeschrittenen Alter sollte eine Immuntherapie geprüft werden, insbesondere wenn noch entzündliche Aktivität nachweisbar ist, beispielsweise durch Schübe oder MRT-Befunde. Medikamente wie Siponimod oder BTK-Inhibitoren können hier helfen, die Progression zu verlangsamen. Es ist wichtig, individuell abzuwägen, welche Therapie sinnvoll ist, da das Nutzen-Risiko-Verhältnis je nach PatientIn stark variiert.

Wie trifft man eine Nutzen-Risiko-Abwägung für eine Immuntherapie bei SPMS im fortgeschrittenen Alter, wenn die Wirksamkeit aufgrund des gealterten Immunsystems eingeschränkt ist?

Mit zunehmendem Alter verändert sich das Immunsystem, was die Anfälligkeit für Infektionen und andere Nebenwirkungen erhöht. Dennoch können Immuntherapien auch bei älteren PatientInnen wirksam sein, wenn sie gut überwacht werden. Entscheidend ist, dass ÄrztInnen und PatientInnen gemeinsam prüfen, welche Therapie mit den geringsten Risiken und dem größten Nutzen einhergeht. Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme sollten bei der Entscheidung berücksichtigt werden.

Spielt der EDSS-Wert bei der Entscheidung eine Rolle?

Der EDSS-Wert ist ein hilfreicher Anhaltspunkt, aber nicht allein ausschlaggebend. Viel wichtiger ist die funktionelle Beurteilung: Welche Fähigkeiten sind bedroht? Wenn z. B. die Arm- und Handfunktion stark gefährdet ist, können auch bei höheren EDSS-Werten intensive therapeutische Maßnahmen gerechtfertigt sein. Entscheidungen sollten immer individuell getroffen werden.

Wirksamkeit und Messung der Immuntherapie

Wie bewerten Sie die Wirksamkeit der zugelassenen Immuntherapien für SPMS?

Die Wirksamkeit der Immuntherapien hängt stark von der Entzündungsaktivität ab. Bei SPMS mit entzündlicher Aktivität zeigen Medikamente wie Siponimod nachweisbare Effekte. Bei reiner Progression ohne Entzündung sind BTK-Inhibitoren vielversprechend, allerdings mit noch begrenzter Wirksamkeit. Wichtig ist eine ehrliche Kommunikation mit PatientInnen über realistische Therapieziele.

Wie misst man den Nutzen einer Therapie bei SPMS?

Neben neurologischen Untersuchungen und EDSS-Verlaufsanalysen spielen patientenberichtete Ergebnisse eine wichtige Rolle. Ergänzend können digitale Tools, wie Wearables, Daten zu Gehfähigkeit, Handfunktion und Aktivitätsniveaus liefern. Wichtig ist, sich Zeit zu nehmen: Bei SPMS kann es bis zu einem Jahr dauern, bis sich Effekte zeigen.

Hinweis:
Mehr zu digitalen Hilfsmitteln erfährst Du in der Folge mit Lars Masanneck.

Diagnose und Monitoring der Krankheit

Wie misst man die neuronale/kognitive Reserve?

Die neuronale Reserve beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, Schäden zu kompensieren. Sie wird durch neuropsychologische Tests wie den SDMT (Symbol Digit Modalities Test) oder den Nine-Hole-Peg-Test (NHPT) gemessen. Für eine detaillierte Analyse empfiehlt sich eine umfassende Testung durch geschulte NeuropsychologInnen. Diese Tests sind wichtig, um kognitive Veränderungen frühzeitig zu erkennen und gezielt gegenzusteuern.

Wie gut messen Neurofilament-Leichtketten (sNfL) Nervenschädigungen?

Neurofilament-Leichtketten sind ein sensibler Marker für Nervenschäden und eignen sich besonders bei entzündlicher Aktivität. Regelmäßige Tests, etwa alle 6 bis 12 Monate, können helfen, den Krankheitsverlauf zu überwachen. In Kombination mit anderen Markern wie GFAP (Glial Fibrillary Acidic Protein) lassen sich langfristige Entwicklungen besser prognostizieren.

Wie gut lässt sich die Hirnatrophie messen?

Die Hirnatrophie kann durch MRTs erfasst werden, ist jedoch in der Praxis schwer standardisierbar. Regionale Messungen, etwa des Thalamus oder Rückenmarks, liefern spezifischere Ergebnisse. Für eine zuverlässige Analyse sind präzise Messmethoden und regelmäßige Verlaufsbeobachtungen notwendig.

Wie misst man PIRA (Verschlechterung unabhängig von Schüben)?

PIRA wird durch eine Kombination aus EDSS-Verlaufsanalysen, MRT-Befunden und patientenberichteten Daten erfasst. Wearables und Smartwatches können zusätzlich wertvolle Einblicke in die Alltagsfunktionalität liefern.

Können MRT-Läsionen klar körperlichen oder geistigen Einschränkungen zugeordnet werden?

Motorische Einschränkungen sind oft klar auf Läsionen im Rückenmark oder bestimmten Hirnregionen zurückzuführen. Bei kognitiven Symptomen spielt die Netzwerkstörung durch multiple Läsionen eine größere Rolle. Funktionelles MRT und andere spezialisierte Untersuchungen können hier zusätzliche Erkenntnisse liefern.

Hinweis:
In der Folge mit Dr. Kitzler erfährst Du mehr über die neuesten Entwicklungen in der MRT-Diagnostik.

Symptomatische Therapie bei SPMS

Was kann man tun, um die Behinderungszunahme bei SPMS aufzuhalten?

Intensive Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie sind essenziell, um Fähigkeiten zu erhalten. Ergänzend helfen symptomatische Medikamente bei Spastik, Fatigue oder Blasenproblemen. Regelmäßige Rehabilitationsmaßnahmen sind unerlässlich, um langfristige Verbesserungen zu erzielen.

Hinweis:
Mehr zum HIIT erfährst Du in der Folge mit Jens BansiBlasenstörungen erläutert Prof. Arndt van Ophoven. Und wenn Du mehr über die positiven Auswirkungen von Sport erfahren möchstest, ist die Folge mit Prof. Philipp Zimmer die richtige für Dich.

Ist eine Rehabilitation bei geringem EDSS-Wert sinnvoll?

Absolut. Auch bei geringen Einschränkungen hilft Rehabilitation, Fähigkeiten zu stabilisieren und gezielte Übungen für den Alltag zu entwickeln. Sie ist eine Investition in die langfristige Lebensqualität.

Tests und Selbstüberwachung

Welche Tests gibt es, um kognitive Einschränkungen zu messen?

Der SDMT ist ein schneller, zuverlässiger Test, der regelmäßig durchgeführt werden kann. Digitale Tools, die neuropsychologische Tests simulieren, gewinnen zunehmend an Bedeutung.

Empfehlen Sie weitere Tests?

Tests wie die Messung der Gehgeschwindigkeit oder der Handfertigkeit sind hilfreich. Wichtig ist jedoch, den Fokus auf regelmäßiges Training zu legen und Ergebnisse mit ÄrztInnen zu besprechen.

Blitzlicht-Runde

Vervollständigen sie den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose…“

…eine Herausforderung, die mit wissenschaftlicher Forschung und Zusammenarbeit gemeistert werden kann.

Welchen Durchbruch in der Forschung und/oder Behandlung der Multiplen Sklerose wünschen sie sich in den kommenden 5 Jahren?

Neue Therapien zur Neuroprotektion und Regeneration sowie bessere symptomatische Behandlungen für Fatigue und kognitive Einschränkungen.

Verabschiedung

Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Die Fortschritte in der MS-Forschung geben Grund zur Hoffnung. Bleiben Sie informiert, aktiv und suchen Sie den Austausch mit Fachleuten sowie anderen Betroffenen.

Wo findet man sie und ihre wissenschaftlichen Arbeiten im Internet?

Auf der Webseite des Universitätsklinikums Essen, in wissenschaftlichen Repositorien wie PubMed sowie auf sozialen Medien wie Instagram.

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele

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Nele von Horsten

Blogger & Patient Advocate

Ich zeige Dir, wie Du das beste aus Deinem Leben mit MS machen kannst von Familie über Beruf bis Hobbys. Denn dank Wissenschaft und Forschung ist das heutzutage möglich.

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