#300: Der digitale MS-Zwilling mit Prof. Tjalf Ziemssen

In dieser ganz besonderen Jubiläumsfolge spreche ich mit Prof. Dr. Tjalf Ziemssen über ein visionäres Konzept: den digitalen Zwilling für Menschen mit Multipler Sklerose. Was zunächst futuristisch klingt, könnte schon bald Realität werden – und unser Verständnis von MS-Therapie grundlegend verändern.

Wir sprechen darüber, wie medizinische Daten sinnvoll genutzt werden können, warum personalisierte Vorhersagen und KI-basierte Entscheidungen neue Möglichkeiten in der Behandlung eröffnen und wie ein hybrides Versorgungssystem den Alltag von Patient:innen erleichtern kann.

Besonders spannend: Der digitale Zwilling soll nicht nur Ärzt:innen unterstützen, sondern auch MS-Betroffene stärken – als eine Art intelligenter Gesundheitsbegleiter im Alltag.

💡 Wenn du wissen willst, wie Daten, Lebensstil und Hightech Hand in Hand gehen können, um dir ein aktives und selbstbestimmtes Leben mit MS zu ermöglichen – dann hör unbedingt rein!

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Inhaltsverzeichnis

Willkommen zum 300. Podcast

Prof. Tjalf Ziemssen:
Ja, sehr schön. Nachdem ich gerade den 300. Geburtstag feiern durfte – nämlich meinen eigenen – freue ich mich natürlich, heute bei Podcast Nummer 300 dabei zu sein.

Nele von Horsten:
Du siehst auf jeden Fall sehr gut aus. Und Forschung zum ewigen Leben findet ja statt – nicht schlecht. Heute soll es um die Zukunft der MS-Versorgung gehen, die mithilfe des digitalen Zwillings deutlich verbessert werden kann.

Die Zukunft der MS-Versorgung

Was hat dich dazu inspiriert, das Konzept eines digitalen Zwillings für MS-Patient:innen zu entwickeln, und wie genau funktioniert das?

Prof. Tjalf Ziemssen:
Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Zum einen haben wir in der Medizin ein Datenproblem. Es werden zwar viele Daten erhoben, aber sie sind oft nicht verfügbar. Das Beispiel der Faxmaschine steht hier sinnbildlich für fehlende digitale Verfügbarkeit.

Nur mithilfe von Daten können wir die personalisierte Therapie weiterentwickeln. Allein mit Bauchgefühl oder fünf Minuten Konsultation beim Neurologen werden wir keine optimale Therapieentscheidung treffen oder die Behandlung adäquat überwachen können. Es geht dabei nicht nur um die krankheitsmodifizierende Therapie, sondern auch um Lebensstilveränderungen.

Der digitale Zwilling in der Medizin

Prof. Tjalf Ziemssen:
Neben dem Datenproblem sehen wir in Deutschland das Paradoxon: Wir haben eigentlich alle Möglichkeiten – zugelassene Medikamente, Physiotherapie, Reha, MRT, Laboruntersuchungen –, aber sie werden oft nicht genutzt. Diese Diskrepanz zwischen vorhandenen Optionen und tatsächlicher Anwendung ist entscheidend.

Genau hier setzt der digitale Zwilling an. Die Idee stammt ursprünglich aus der Industrie, wo Prozesse laufend überwacht und optimiert werden. Ein Auto wird nicht einfach gebaut, ohne dabei sämtliche Daten über die einzelnen Schritte zu erfassen – von der Tür bis zum Motor.

In der Medizin funktioniert das ähnlich. Natürlich ist das System komplexer, da viele Akteure beteiligt sind. Aber auch hier brauchen wir Daten, die systematisch und digital erfasst werden. Nur so kann eine qualitative Analyse erfolgen.

Bedeutung von Datenqualität

Prof. Tjalf Ziemssen:
Wenn wir etwa MRTs nur anhand der schriftlichen Befunde auswerten, geht enorm viel Information verloren. Die Rohdaten beinhalten zum Beispiel Details über die Größe und Lage von Läsionen. Auch Laborwerte in PDF-Dokumenten sind schwer vergleichbar. Man müsste sie manuell über Jahre hinweg durchsehen – das ist ineffizient.

Noch schlimmer ist es, wenn man versucht, aus diesen Berichten wieder Daten zu gewinnen – das ist der falsche Weg. Stattdessen sollten wir von Anfang an echte, strukturierte Daten sammeln. Ein Beispiel: Wenn ich meinem Arzt sage, dass ich schlechter gehen kann, ist das eine Info. Wenn mein Smartphone aber zeigt, dass ich in den letzten drei Monaten täglich 5.000 Schritte weniger gemacht habe, ist das eine ganz andere Dimension von Aussagekraft.

KI und Big Data in der Medizin

Kannst du noch kurz erklären, wie KI und Big Data konkret beim digitalen Zwilling helfen?

Prof. Tjalf Ziemssen:
Sehr gerne. Zuerst sammeln wir systematisch Daten über längere Zeiträume. Diese Daten dienen dann als Grundlage, um mithilfe von KI herauszufinden, welche Therapie individuell am besten passt. Wenn wir von einem Patienten ein Jahr lang hochwertige Daten haben, können wir durch Vergleich mit ähnlichen Verläufen Vorhersagen treffen.

Wir nutzen Dashboards zur Visualisierung und auch Simulationen – so wie in der Industrie. Auf diese Weise können wir zum Beispiel klinische Studien mit virtuellen Patient:innen durchführen. Aus einem Pool von 500 realen Fällen lassen sich 5.000 digitale Abbilder erzeugen, mit denen dann wissenschaftlich gearbeitet werden kann.

Vorhersage von Krankheitsverläufen

Prof. Tjalf Ziemssen:
Mit dem digitalen Zwilling können wir Krankheitsverläufe besser vorhersagen. Das hilft nicht nur den spezialisierten Neurolog:innen, sondern auch solchen, die weniger Erfahrung mit MS haben. Sie können mit datenbasierter Unterstützung bessere Therapieentscheidungen treffen.

Wichtig ist auch, dass der Patient oder die Patientin selbst befähigt wird. Das ist ja auch ein Kern deines Podcasts – Betroffene sollen Expert:innen ihrer Erkrankung werden. So kann jede:r prüfen: Verläuft mein Management nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft?

Diese Transparenz ermöglicht es, auch die ärztliche Versorgung zu hinterfragen – freundlich, aber bestimmt. Denn wenn jemand erfährt, dass ein MRT öfter als alle fünf Jahre empfohlen ist, öffnet das die Augen.

Der Einfluss von Lebensstilfaktoren

Nele von Horsten:
Das kenne ich gut. Ich hatte bei meinem ersten Schub keinen Zugang zu einer passenden Therapie – also habe ich mich auf die beeinflussbaren Lebensstilfaktoren konzentriert.

Prof. Tjalf Ziemssen:
Das ist genau richtig. Leider wird dieser Aspekt oft vernachlässigt. Der Fokus liegt meist nur auf der medikamentösen Therapie. Aber der digitale Zwilling kann auch andere Faktoren systematisch erfassen – Ernährung, Bewegung, Schlaf, Stress.

Ein Teil kann dabei in der Praxis erfasst werden, ein anderer zu Hause – zum Beispiel über ein digitales Tagebuch. So entsteht ein hybrides System: Die wichtigsten Untersuchungen, wie MRTs, finden im Zentrum statt, anderes läuft digital.

Hybrides Management für Patient:innen

Prof. Tjalf Ziemssen:
Wenn wir die richtigen Tools bereitstellen, kann ein großer Teil des Monitorings auch zu Hause erfolgen. Das reduziert unnötige Arztbesuche und spart Zeit – auf beiden Seiten. Derzeit zwingen uns die Abrechnungssysteme aber noch zu festen Quartalsbesuchen. Das ist wirtschaftlich nicht ideal und inhaltlich oft unnötig.

Die Idee ist, durch neue Vergütungsmodelle – zum Beispiel Pauschalen für chronisch Kranke – mehr Flexibilität zu schaffen. Dann kann man gemeinsam mit dem Patienten oder der Patientin besprechen, was wann sinnvoll ist.

Die Rolle des Neurologen

Nele von Horsten:
Ich komme ja trotzdem immer gerne bei euch vorbei – aber es ist natürlich super, wenn nicht jeder Besuch nötig ist.

Prof. Tjalf Ziemssen:
Genau. Das Ziel ist, dass sich Ärzt:innen auf das Wesentliche konzentrieren können. Der digitale Zwilling hilft dabei, die Daten strukturiert zu erfassen – sei es Bewegung, Sprache, Fatigue oder Ernährung. Und natürlich bleibt der Mensch im Mittelpunkt: Es geht um Unterstützung, nicht um Kontrolle durch einen Roboter.

Verbesserung der Patientenversorgung

Nele von Horsten:
Ich finde ja, wenn man selbst das Gefühl von Selbstwirksamkeit hat, ist man auch eher bereit, unangenehme Dinge wie Impfungen oder Medikamente gewissenhaft durchzuziehen.

Prof. Tjalf Ziemssen:
Ganz genau. Und wir alle wissen, das Leben ist nicht immer stressfrei – auch nicht mit digitaler Unterstützung. Aber wenn man versteht, welchen Einfluss man selbst nehmen kann, stärkt das die Motivation enorm.

Zur Frage, wie offen Neurolog:innen diesem Thema gegenüberstehen: Viele wünschen sich eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Patient:innen. Aber es braucht auch eine Spezialisierung. Es ist schwer, MS gut zu behandeln, wenn man nur wenige Fälle im Jahr sieht.

Ein digitaler Zwilling kann auch dabei helfen, passende Versorgungszentren zu identifizieren und die Betreuung überregional zu ermöglichen – gerade in ländlichen Regionen.

Einsatz des digitalen Zwillings

Prof. Tjalf Ziemssen:
In fünf bis zehn Jahren stelle ich mir vor, dass jede:r Patient:in mit einem digitalen Zwilling begleitet wird. Das Tool fragt regelmäßig ab, wie es einem geht – angepasst an individuelle Bedürfnisse, z. B. bei Fatigue, Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen.

Aber: Es geht nicht darum, täglich 250 Fragen zu beantworten. Moderne Systeme wie Chatbots können gezielt fragen: „Gab es Veränderungen?“ – wenn nein, lassen sie einen in Ruhe.

Und gleichzeitig gibt das Tool auch etwas zurück: Empfehlungen zu Bewegung, Ernährung, Tagesstruktur. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern als echter Partner im Alltag.

Nächste Schritte in der Entwicklung

Prof. Tjalf Ziemssen:
Wir haben bereits einen Datenraum aufgebaut, in dem wir MRT-Daten mit Bewegungsanalysen kombinieren. Daraus entstehen neue Phänotypen, die helfen, individuelle Therapieentscheidungen zu treffen.

Spannend ist auch der Bereich Sprache. Die Erhebung von Gesundheitsdaten über Sprache – also einfaches Sprechen statt Fragebögen – ist besonders patient:innenfreundlich. Erste Pilotprojekte laufen bereits.

Gleichzeitig evaluieren wir die Qualität der Daten, die aktuell erhoben werden. Leider erfüllen viele MRTs noch nicht die Standards, die wir für gute Voraussagen brauchen. Auch daran arbeiten wir intensiv weiter.

Patientenbeteiligung an der Gestaltung

Welche Rolle spielen wir Patient:innen denn konkret bei der Weiterentwicklung des digitalen Zwillings?

Prof. Tjalf Ziemssen:
Eine sehr wichtige! Zum Beispiel bei Umfragen, wie wir sie gerade durchführen. Wir wollen den digitalen Zwilling gemeinsam mit den Patient:innen entwickeln, nicht über ihre Köpfe hinweg.

Wir freuen uns über jede Kontaktaufnahme: Wer an Messungen teilnehmen oder Feedback geben will, ist herzlich willkommen. Letztlich machen wir das ja nicht für die Forschung um ihrer selbst willen, sondern um echten Mehrwert für Betroffene zu schaffen.

Nele von Horsten:
Also an alle da draußen: Wenn ihr gefragt werdet – ob in Dresden oder anderswo – helft mit! Wissenschaft funktioniert nur mit eurer Unterstützung.

Prof. Tjalf Ziemssen:
Genau. Und uns ist wichtig, dass Patienten aktiv in die Gestaltung eingebunden werden – nicht nur als Datenlieferanten, sondern als Mitgestaltende.

Verabschiedung

Nele von Horsten:
Vielen Dank, Tjalf, für dieses spannende Gespräch – und dass du bei Folge 300 mit dabei warst!

Prof. Tjalf Ziemssen:
Ich danke dir. Und wer weiß – vielleicht sehen wir uns bei Folge 350 oder 400 wieder!

Nele von Horsten:
Warum nicht? Ich erinnere mich noch gut, wie ich damals in deiner Sprechstunde saß und gesagt habe: „Ich kann mir vorstellen, über meine Erkrankung zu sprechen.“ Hätte ich nie gedacht, dass daraus so ein Projekt wird – und jetzt ist es sogar international unterwegs!

Prof. Tjalf Ziemssen:
Bald vielleicht sogar auf Chinesisch!

Nele von Horsten:
Italienisch oder Spanisch vielleicht eher – aber mal sehen.

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele

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Nele von Horsten

Blogger & Patient Advocate

Ich zeige Dir, wie Du das beste aus Deinem Leben mit MS machen kannst von Familie über Beruf bis Hobbys. Denn dank Wissenschaft und Forschung ist das heutzutage möglich.

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