Diese Podcast-Folge ist dem Andenken an Prof. Giancarlo Comi gewidmet – einen herausragenden Neurologen, engagierten Forscher und langjährigen Präsidenten der European Charcot Foundation. Er hat mit seinem Wirken die Versorgung und das Verständnis für Menschen mit Multipler Sklerose entscheidend geprägt und hinterlässt ein beeindruckendes wissenschaftliches und menschliches Vermächtnis.
Ich hatte die große Ehre, dieses Interview mit ihm auf Englisch zu führen – nur wenige Monate vor seinem Tod. Ohne die Unterstützung der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung wäre dieses Gespräch nicht möglich gewesen. Dafür danke ich von Herzen.
Das Gespräch ist ursprünglich auf Englisch erschienen und kann weiterhin in der Originalfassung gehört werden. In dieser überarbeiteten und übersetzten Version möchte ich Dir Prof. Comis Arbeit zugänglich machen und seine Gedanken und Visionen weitertragen.
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Einführung – Wer ist Prof. Giancarlo Comi?
Prof. Giancarlo Comi: Ich bin Professor Giancarlo Comi, Neurologe. Zurzeit bin ich Ehrenprofessor an der Vita-Salute-Universität in Mailand, Präsident der European Charcot Foundation und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees der Human Brains Initiative der Prada Foundation. Außerdem leite ich das MS-Zentrum an der Casa di Cura Igea in Mailand.
Nele von Horsten: Das klingt nach einem sehr engagierten und erfüllten Berufsalltag!

Persönliche Motivation für Ihren Berufsweg
Prof. Giancarlo Comi: Mein Interesse an der Medizin begann schon im Alter von etwa zehn oder elf Jahren. Meine ältere Schwester hatte damals eine schwere Lungenentzündung. Ich erinnere mich daran, wie ich am Fenster stand und auf den Arzt wartete, der ihr Penicillin brachte – das war für mich ein Schlüsselmoment. Von da an war mein Wunsch, Menschen zu helfen, tief in mir verankert. Später entschied ich mich für die Neurologie, weil ich das Gehirn als das faszinierendste Organ des Körpers betrachtete.
Die European Charcot Foundation
Warum wurde die European Charcot Foundation gegründet, und welche Ziele verfolgt sie heute?
Prof. Giancarlo Comi: Die Stiftung wurde vor über 30 Jahren von Prof. Otto Hommes aus Nijmegen ins Leben gerufen. Ich war von Anfang an beteiligt. Prof. Hommes war auch Mitbegründer von ECTRIMS – zwei der weltweit bedeutendsten MS-Organisationen gehen also auf ihn zurück. Vor etwa 15 Jahren übernahm ich das Amt des Präsidenten. Die Hauptziele der Stiftung sind heute Bildung, internationale Vernetzung und die Förderung von MS-Forschung.
Wie international ist die European Charcot Foundation aufgestellt? Wer nimmt daran teil?
Prof. Giancarlo Comi: Ursprünglich auf Europa fokussiert, ist die Stiftung heute weltweit aktiv – von Australien über China und Nord- bis Südamerika. Wir veranstalten jährlich 10 bis 15 Symposien auf verschiedenen Kontinenten.
Welche Bedeutung hat das jährliche Treffen, und wie läuft die Zusammenarbeit das restliche Jahr über?
Prof. Giancarlo Comi:Das jährliche Treffen war anfangs die einzige Aktivität der Stiftung und bleibt auch heute ein zentrales Ereignis. Es ist themenfokussiert, ohne parallele Sitzungen, um tiefgehende Diskussionen zu ermöglichen. Mit rund 400 bis 500 Teilnehmer:innen halten wir es bewusst überschaubar. Die Tagung findet inzwischen fest in Baveno am Lago Maggiore statt – ein gut erreichbarer, bestens geeigneter Ort.
Der Charcot Multiple Sclerosis Master
Warum wurde das Charcot MS Master-Programm ins Leben gerufen?
Prof. Giancarlo Comi:Die Idee kam von Prof. Tjalf Ziemssen von der Universität Dresden. Die dortige International University ist für ihre Masterprogramme bekannt. Gemeinsam wollten wir aus einem nationalen Angebot ein internationales machen. Seit eineinhalb Jahren läuft das Programm erfolgreich. Es richtet sich an Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen, die sich umfassend in MS weiterbilden wollen – mit Modulen zu Epidemiologie, Pathophysiologie, Therapie und Management.
Wer ist die Hauptzielgruppe, und was können die Studierenden erwarten?
Prof. Giancarlo Comi: Ziel ist es, auf die Komplexität in der Versorgung von MS-Betroffenen vorzubereiten – also Ärzt:innen, Pflegekräfte, Verwaltungsfachleute oder auch Grundlagenforscher:innen umfassend zu schulen. Es ist ein berufsbegleitendes Programm mit Online-Unterricht an Wochenenden und Präsenzphasen in Barcelona, Dresden und Mailand.
Wie profitieren MS-Patient:innen letztlich von diesem Masterprogramm?
Prof. Giancarlo Comi: Durch besser ausgebildete Fachkräfte steigt die Qualität der Versorgung. Noch immer werden manche Patient:innen nur von Allgemeinneurologen mit wenig MS-Erfahrung behandelt. Das Programm soll helfen, einheitlich hohe Standards zu etablieren und spezialisierte MS-Versorgungszentren, sogenannte MS Care Units, zu fördern.
Wie international sind die Studierenden und Dozierenden?
Prof. Giancarlo Comi:Unsere über 100 Dozierenden kommen aus der ganzen Welt – Nord- und Südamerika, Europa, Asien, Afrika und Ozeanien. Auch die Teilnehmenden sind international bunt gemischt. Unser Ziel ist es, unser globales Netzwerk im Masterprogramm abzubilden.
Weitere Aktivitäten der European Charcot Foundation
Welche Inhalte bietet der MS Knowledge Hub, und für wen ist er gedacht? Was ist das Ziel der Multi-Stakeholder-Initiative?
Prof. Giancarlo Comi: Die Stiftung führt unter dem Dach der Multi-Stakeholder-Initiative zahlreiche Projekte durch, manche eigenständig, andere in Partnerschaft. Ziel ist es, weltweite MS-Aktivitäten besser zu koordinieren. Dazu zählen z. B. die Care MS Units, eine globale Umfrage zu Versorgungsmodellen und das PROMS-Projekt (Patient Reported Outcomes in MS), das Patient:innenstimmen wissenschaftlich nutzbar machen will.
Wie präsent ist die Stiftung auf den großen MS-Kongressen, und welche Rolle spielt sie dort?
Prof. Giancarlo Comi:Die ECF arbeitet eng mit allen regionalen CTRIMS-Organisationen zusammen – in Lateinamerika, dem arabischen Raum, Mexiko, Asien-Pazifik, Indien, China und weiteren Regionen. Wir organisieren regelmäßig Symposien, z. B. bei ACTRIMS. Wegen des Ukraine-Kriegs wurde die Zusammenarbeit mit RUCTRIMS vorübergehend ausgesetzt, bleibt aber langfristig ein Ziel.
Was ist die Initiative Insight 10, und wie werden die Fachartikel ausgewählt?
Prof. Giancarlo Comi: Insight 10 stellt zehn aktuelle und relevante Studien zu MS und NMO vor. Die Auswahl erfolgt durch junge Wissenschaftler:innen und berücksichtigt zunehmend auch verwandte Erkrankungen wie MOGAD. Für Februar 2025 ist ein gemeinsamer Kongress in São Paulo geplant.
Was ist das CLAIMS-Projekt, und welchen Nutzen bringt es MS-Betroffenen?
Prof. Giancarlo Comi: CLAIMS (Clinical Impact through AI-Assisted MS Care) ist ein Projekt im Rahmen des IHI-Programms, geleitet von Paul Friedmann und Icometrix. Ziel ist es, mithilfe von Künstlicher Intelligenz die Krankheitsverläufe individueller zu prognostizieren und so die Therapieentscheidungen zu personalisieren – etwa auf Basis von Biomarkern, Blutwerten und Patient:innenberichten.
Schnellfragerunde
Vervollständigen Sie den Satz: „Für mich ist Multiple Sklerose...“
Prof. Giancarlo Comi: …ein Gegner, dem wir uns stellen müssen – mit dem Ziel, ihn zu besiegen. Ich sehe mich oft als Ermittler, der versucht, die individuellen Puzzleteile zusammenzusetzen, um der betroffenen Person bestmöglich zu helfen.
Welche Entwicklung auf dem Gebiet MS wünschen Sie sich in den nächsten fünf Jahren?
Prof. Giancarlo Comi: Wir benötigen dringend wirksame Therapien für die progrediente MS. Während wir die schubförmige Verlaufsform gut behandeln können, fehlt es noch an Lösungen, um das Fortschreiten der Behinderung aufzuhalten. Die Mechanismen dahinter sind noch nicht vollständig verstanden.
Verabschiedung
Welche ermutigende Botschaft möchten Sie Menschen mit MS mitgeben?
Prof. Giancarlo Comi: Für neu diagnostizierte Patient:innen: Seien Sie zuversichtlich. Dank moderner Therapien ist ein Leben ohne schwerwiegende Einschränkungen heute in vielen Fällen möglich. Für Menschen mit längerer Erkrankungsdauer oder bestehenden Einschränkungen: Es gibt vielversprechende Entwicklungen – auch im Bereich der modernen, interdisziplinären Rehabilitation. Und für alle gilt: Eine engagierte Zusammenarbeit zwischen Patient:innen, Ärzt:innen und Organisationen ist der Schlüssel zum Fortschritt.
Wie und wo kann man Ihre Forschungsaktivitäten verfolgen?
Prof. Giancarlo Comi:Ich leite derzeit auch die Initiative „Human Brains“ der Prada Foundation, die sich mit neurodegenerativen Erkrankungen befasst. Für den Herbst planen wir eine internationale Konferenz zur Prävention und eine Ausstellung, um Wissen allgemeinverständlich zu vermitteln. Wissenschaft muss offen und zugänglich sein – auch in der Sprache. Es reicht nicht, Patient:innen ins Zentrum zu stellen, ohne ihnen echte Beteiligung zu ermöglichen. Es braucht Partnerschaft, keine Überforderung.
Nele von Horsten: Prof. Comi, vielen herzlichen Dank für das spannende Gespräch, Ihr Engagement und Ihre Zeit. Herzliche Grüße nach Mailand!
Prof. Giancarlo Comi: Es war mir ein Vergnügen. Alles Gute – auf Wiedersehen!
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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