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Podcast #087 – Interview mit MS-Patientin Jule alias @solltekoennte.mache

Porträtfoto von Jule @solltekoennte.mache, aufgenommen in Norwegen

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Der Podcast war seit langer Zeit geplant. Die schriftlichen Antworten hatte mir Jule von @solltekoennte.mache schon vor Monaten geschickt. Daher hier ganz kurz ein paar kleine Updates: Jule und ihr Mann Sven sind gerade in Leipzig und aus Norwegen zurück. Die nächste lange Reise wird geplant. Da unter dem bisherigen verlaufsmodifizierenden Medikament leider weitere Schübe auftreten, wechselt Jule nun zu Ocrevus, was hoffentlich neue Schübe verhindert. Den aktuellsten Stand gibt es im Interview zu hören.

Vorstellung Jule @solltekoennte.mache

Hi, ich bin Jule, bin dieses Jahr 30 geworden und komme aus Leipzig. Ursprünglich komme ich aus dem beschaulichen Nordwesten von Brandenburg und durch den Job und schlussendlich die Liebe hat es mich nach Leipzig verschlagen.

Seit 2019 beziehe ich die volle EU- Rente, bin jedoch schon seit meiner Diagnose nicht mehr arbeiten gegangen. Die EU – Rente durchzusetzen hat leider zu lange gedauert.

Ich beziehe die Rente aufgrund einer sehr stark ausgeprägten Fatigue.

Seit 2019 bin ich mit meinem Mann Sven verheiratet, mit ihm betreibe ich meinen Instagramkanal @solltekoennte.mache.

Diagnose und aktueller Status

Seit wann hast du die Diagnose?

Ich habe meine Diagnose im Dezember 2015 erhalten. Wie wahrscheinlich bei fast jedem hat sich die MS schon Jahr zuvor bemerkbar gemacht, doch ich hatte das zumindest das Glück, dass es dann im Dezember dann sehr schnell ging.

Wie geht es dir aktuell mit der MS?

Ich bin niemand der je sagen würde das es mir schlecht geht!

Aber mal im Ernst. Ich habe ein eher durchwachsenes Jahr hinter mir, es schwirrt immer noch chronisch progredient im Raum und ich war teilweise pflegebedürftig in 2020, daher würde ich klar sagen: im Vergleich geht es mir derzeit richtig gut.

Nimmst du eine Basistherapie bzw. hast du bereits mehrere ausprobiert?

Ja, ich nehme derzeit (2020) Tecfidera ein, werde jedoch sehr wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres wieder die Basistherapie wechseln. Vor Tecfidera hab ich mit zwei Interferonen die MS versucht in den Griff zu bekommen, hier waren die Nebenwirkungen zu extrem.

Das Tecfidera war ein Segen die letzten Jahre, ich hatte, abgesehen von einem einzigen Flush, nie Nebenwirkungen. Doch es scheint nun nicht mehr zu helfen.

Also geht es wieder ans ausprobieren, was das Richtige ist.

Lebensplanung inkl. Beruf

Wie sah deine Lebensplanung vor der Diagnose aus? Und hat sich deine Einstellung in Bezug auf Beruf, Familie und Freizeit seit der Diagnose verändert?

Ich war Abteilungsleiterin bei H&M und war sehr kurz davor meinen eigenen Laden als Filialleiterin zu erhalten. Mir war mein Job sehr wichtig muss ich zugeben. Kurz vor der Diagnose hatte ich Sven kennengelernt.

Wir beide haben viel Zeit in unsere Jobs investiert, das hat wirklich gut gepasst.

Nach der Diagnose war ich tatsächlich gar nicht mehr arbeiten, abgesehen von einer gescheiterten Wiedereingliederung. Das war ein sehr herber Schlag für jemanden, der sehr viel mit seinem Job verbindet und so kurz davor stand, sich diesen Traum zu erfüllen, Filialleiterin zu werden. Ich muss zugeben, dass ich daran noch sehr lang zu knabbern hatte.

Heute sehe ich und auch Sven das anders. Sven hat seinen Job nach einigen Jahren gekündigt und sich etwas gesucht, bei dem er nicht mehr auf Montage muss. So war er viel zu Hause und musste nur noch 8 Stunden täglich auf die Arbeit, das war vorher nicht der Fall. Wir haben 2019, obwohl wir dies nie wollten geheiratet. Ich glaube, all das wäre ohne die MS nie passiert.

Was jedoch deutlich zu beobachten war: Viele Freunde gingen und ich musste erstmal verstehen warum. Aber heute weiß ich eines: Ich habe lieber wenige und dafür sehr gute Freunde, als einen breiten Freundeskreis.

Wann hast du deinen Instagram Kanal gestartet und was wolltest du damit erreichen?

Wir haben tatsächlich erst im Januar 2020 gestartet und glücklicherweise relativ erfolgreich, so hat es vom ersten Moment an auch richtig Spaß gemacht mit so vielen Menschen zu interagieren.

Die Gründe warum wir starteten waren, dass wir zum einen Aufklärung betreiben wollten und zum anderen zeigen, dass man sich seine Wünsche erfüllen kann, man nur seinen ganz persönlichen Weg finden muss.

Es ist nämlich so, dass man ja bestimmte Dinge von vornherein immer gleich als nicht möglich abstempelt, jedoch muss man einfach nur seinen gehen.

Ein Beispiel: Jemand aus deiner Nachbarschaft fährt einen Ferrari. Jetzt denkst du dir “Einen Ferrari werde ich nie haben, ich werde immer Fahrrad fahren!” Das mag sein, jedoch wirst du vielleicht mal einen Kleinwagen fahren und stolz drauf sein. Es gibt halt nicht nur den einen Weg. Abwandlung und nicht immer nur in den Tunnel schauen ist uns so wichtig, zu vermitteln.

Was mir noch wichtig ist: Wir sprechen sehr bewusst nicht nur Betroffene an, sondern von Anfang an einen Mix. Denn unserer Meinung nach bewegen wir uns in unserer Aufklärungsarbeit zu oft in einem Rahmen, der nur aus Betroffenen besteht.

Du gehst sehr offen mit deinen Erfahrungen rund um die MS um. Hat Dich das Überwindung gekostet?

Ja und tut es noch heute. Es gibt Tage und gab in der Vergangenheit auch Wochen, in denen ich mich gar nicht zeige. Aber ich versuche dann darüber zu sprechen, warum ich das gemacht habe.

Warum ich in dem Moment “Angst” hatte, darüber zu erzählen. Es gibt halt immer Dinge, über die es mir leicht fällt zu reden und dann wieder Dinge, über die es dir schwer fällt. Es spielt auch oft eine Rolle, wie ich mich fühle. Denn wenn ich allgemein einen schlechten Tag habe, möchte ich oftmals einfach bestimmte Dinge nicht ansprechen, dann mache ich das lieber später.

Wann habt ihr die Entscheidung getroffen auf Reisen zu gehen?

Als wir uns Anfang 2015 kennengelernt haben, war sofort klar, dass wir beide viel von der Welt sehen wollen. Das wir eine Weltreise machen, dass entschieden wir nach der MS-Diagnose, vielleicht so 2017.

Konkreter wurde es 2018, als uns bewusst wurde, dass wir immer von “in 10 Jahren reden” aber nach einem Jahr es immer noch “in 10 Jahren” war. Es hatte sich also nichts verändert. Wir wollten konkrete Pläne schmieden. Also entschieden wir, erst einmal ein halbes Jahr nach Thailand zu reisen, um dort unsere Tauchausbildung zu vervollständigen. Daraus wurde nach Mittelamerika. Wir sind nicht gerade entscheidungsfreudig.

Als ich Ende 2018 Anfang 2019 stärkere Probleme mit der MS bekam, begriffen wir, unsere Pläne nochmal überdenken zu müssen, damit alles mit der MS vereinbar ist. Denn war erst die Tauchausbildung beenden, arbeiten und dann reisen? Was ist, wenn in 10 Jahren das reisen nicht mehr funktioniert? Also wollten wir erst reisen, arbeiten kann Sven z.B. auch noch in 10 Jahren.

So kam dann das konkrete Datum März 2020. Naja aber dann kam ja Corona.

Aktuell seid ihr in Norwegen und das trotz Corona? Respekt! Verblüfft euch manchmal selbst, was ihr alles schafft trotz der Hürden, die ihr überwinden müsst?

Hier in Norwegen haben wir die Zeit und Ruhe, viel zu reflektieren und ehrlich gesagt haben wir noch gar nicht begriffen, dass wir nun hier sind und all das geschafft haben.

Das würde jetzt zu lang dauern, jedoch muss man sich halt einfach mal vor Augen führen, dass wir allein in diesem Jahr unsere Wohnung aufgegeben haben, Sven hat seinen Job gekündigt, dann standen wir durch Corona plötzlich ohne Wohnung da und konnten nicht aus dem Land raus, haben Monate in unserem Wohnmobil gelebt. Aufgrund extremer gesundheitlicher Probleme mussten wir uns wieder eine Wohnung nehmen, haben unser Wohnmobil verkauft, da wir uns sicher waren, dass wir definitiv nie reisen werden können, so wie es gesundheitlich aussieht und sind nun schlussendlich hier.

Dies ist jedoch auch nur möglich, weil wir uns entschlossen haben, nicht zu reisen, sondern 3 Monate an einen Ort zu gehen und dort richtig zu wohnen, jedoch halt einfach im Ausland.

Ich sage da immer so schön: “Leiden kann ich überall, egal wo auf der Welt.”

Ihr geht sehr humorvoll mit schweren Themen um. Das schätzen gewiss viele Eurer Abonnenten. Ich auch. Bekommt ihr trotzdem manchmal auch garstige Nachrichten oder Kommentare und wie reagiert ihr darauf?

Tatsächlich haben wir erst einmal eine Nachricht bekommen, die nicht so schön war. Jedoch muss man dazu sagen, dass wir bewusst manche Dinge auf eine ironische Art und Weise ansprechen und uns bewusst ist, dass wir damit nicht alle glücklich machen. Wir stauen daher, dass es bisher nur einmal vorgekommen ist. Ich bin jedoch auch froh, ich nehme mir Kritik immer sehr zu Herzen.

Tiefpunkte

Was war dein tiefster Tiefpunkt mit der MS und wie hast du dich wieder empor gekämpft?

Ich kann hier sofort zwei benennen.

Der erste war Ende 2016, ich hatte sehr schlimme Nebenwirkungen durch meine Basistherapie Avonex, eine davon war eine schwere Depression. Ich rede zwar drüber, aber manche Details kann ich selbst heute schwer wieder geben. Ich glaub ich war suizidgefährdet. Ich habe nach einer Nacht, in der es wirklich akut war, sofort meine Sachen gepackt und bin zu meiner Schwester gefahren, da Sven auf Montage war.

Anschließend bin ich eine Woche später mit Sven zu meinem Neurologen und hab ihm die Situation beschrieben. Ich durfte das Avonex absetzen, er hat mir Antidepressiva verschrieben und Anfang 2017 habe ich sogar mit einer Psychotherapie begonnen.

Ich bin heute noch sehr stolz, dass ich all diese Maßnahmen für mich selbst so schnell ergriffen habe.

Mein zweiter Tiefpunkt war im Sommer 2020, also noch gar nicht so lang her.

Hier war kurz nicht sicher, ob ich vielleicht pflegebedürftig werde, bzw. bleiben werde. Mein größtes Problem mit der MS ist eine besonders schwere Form der Fatigue und im Sommer konnte ich über Wochen die Wohnung nicht verlassen, konnte nicht kochen oder den Haushalt machen, zum Zähneputzen war ich zu kaputt und teilweise konnte ich mich zum Essen nicht aufsetzen. Arztgespräche machte ich schon per Videotelefonie. Immer und Immer wieder stellte ich die Frage, was ich tun kann und ob die bleiben wird. Hinter allem gab es ein riesen Fragezeichen.

Ich selbst habe viel mit Nahrungsergänzungsmitteln experimentiert, hab gebeten, dass wir probieren können, meine Medikamente gegen die Epilepsie gänzlich weg zu lassen.

Es ist nicht so, dass ich jetzt wieder das blühende Leben bin. Auch jetzt kann ich nur maximal zweimal die Woche aus dem Haus. Aber es geht mir viel besser und ich habe wieder Lebensqualität.

Wie hat sich Deine Einstellung in Bezug auf Glück, Zufriedenheit und Dankbarkeit geändert?

Auch wenn das jedes mal aufs Neue blöd klingen mag: die MS hat mir auch etwas geschenkt und ich denke, dass das viele Betroffenen bestätigen können.

Denn ich bin viel Genügsamer geworden, nutze viel öfter den Augenblick, verschiebe Dinge nicht mehr so oft auf die Zukunft. Dafür bin ich tatsächlich sehr dankbar.

Tipps

Was machst du, wenn du Symptome der MS verspürst?

Erst einmal ruhig bleiben. Es kommt auch immer darauf an, was es ist. Zuletzt habe ich im Oktober eine Sehnervenentzündung gehabt, da habe ich mich erstmal ein paar Tage ausgeruht, Weihrauch genommen und als auch das nichts gebracht hat, bin ich zum Arzt gegangen.

Was die Fatigue betrifft: Sie ist bei mir täglich präsent und das in unterschiedlicher Form, ich brauche einen extrem strukturierten Tagesablauf und eine möglich feste Umgebung.

Zur Zeit achten wir darauf, dass wir wirklich nur zweimal in der Woche das Haus verlassen und ich den Rest der Woche habe, um den Körper Ruhe zu gönnen.

Gibt es einen großen unerfüllten Wunsch?

Ich hab echt länger über diese Frage nachgedacht und muss mit nein antworten. Ich bin glücklich und lebe mein Leben so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen.

Blitzlicht-Runde

Was war der beste Ratschlag, den du jemals erhalten hast?

“Hören Sie auf sich zu rechtfertigen” von meinem Neurologen.

Wie lautet dein aktuelles Lebensmotto?

Lebe so, als wenn es in 10 Jahren nicht mehr möglich ist, aber gehe davon aus,
dass es in 10 Jahren heilbar sein wird.

Mit welcher Person würdest du gern einmal ein Kamingespräch führen und zu welchem Thema?

Edward Snowden – Einfach weil ich gern mal ohne Kameras aus erster Hand seine Version hören würde.

Vervollständige den Satz:

„Für mich ist die Multiple Sklerose .. Fluch und Segen zugleich “

Welche Internet-Seite kannst du zum Thema MS empfehlen?

Selbstverständlich unsere!

Hast du einen Tipp, den du deinem jüngeren Ich geben würdest, für den Zeitpunkt der Diagnose?

Es ist ok, manchmal nicht zu funktionieren und dafür muss man sich bei niemanden rechtfertigen!

Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Das Thema Multiple Sklerose muss nicht immer ein schwieriges Thema sein. Auch bei einem schwereren Verlauf kann das Leben lebenswert und voller Freude sein.

Wo finden findet man euch überall im Internet?

Zum einen selbstverständlich bei Instagram unter dem Namen  @solltekoennte.mache, dann unter der Website www.solltekoenntemache.de und gerade eben haben wir unseren YouTube Kanal unter solltekoenntemache gestartet!

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Vielen Dank an Jule für das geführte Interview und die spannenden Einblick! Alle Fragen und Antworten kannst du ebenfalls in der Podcast-Folge nachhören.

Alles Liebe und bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele

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