In Folge 100 vom Podcast geht es darum, wie die Behandlung von MS-Patienten bereits heute digital unterstützt wird und welche Verbesserungen die Zukunft bringt?
Bevor es losgeht, möchte ich mich bei Dir bedanken, dass du die Beiträge liest und hörst. Es macht mir großen Spaß, immer mehr Experten zu ihrem Fachwissen zu interviewen sowie die Perspektive und Erfahrungen anderer MS-Patienten zu verbreiten. Denn die Krankheit der 1.000 Gesichter verdient eine vielfältige Darstellung.
Die Antworten von Prof. Ziemssen zu digitalen Tools und der Zukunft der Behandlung für MS-Patienten habe ich versucht, kurz zusammenzufassen.
Vielen Dank auch an das MS-Zentrum Dresden, dass ich die Karikaturen von Phil Hubbe nutzen darf, die er für die Broschüre zum Welt-MS kreiert hat. Übrigens eine sehr lohnenswerte Lektüre:
Stay Connected – Broschüre
Zur guten Versorgung von MS-Patienten am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
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Vorstellung
Prof. Dr. Tjalf Ziemssen leitet das MS-Zentrum am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. Er war bereits mehrfach zu Gast, präsentiert einen monatlichen Patientenpodcast im Videoformat und hat das Vorwort zu meinem Erfahrungsbericht „Multiple Sklerose? Keine Angst!“ geschrieben:
Digitales und Zukunft
Wie sah die Patientenversorgung vor 20 Jahren im Bereich Multiple Sklerose aus? Gab es digitale Hilfsmittel?
Im Jahr 2000 war die Bildgebung durch das MRT digital. In Dresden am Uniklinikum wurden damals erste PCs angeschafft, um Patientendaten digital zu sammeln. Denn es war bereits damals klar, dass die Behandlung von MS-Patienten durch eine größere Datenbasis verbessert werden kann.
Was hat sich seitdem verändert? Welche digitalen Unterstützungen nutzen sie heute?
Die MS als Krankheit der 1.000 Gesichter ist multidimensional. Deshalb braucht man Instrumente, die die vielfältigen Defizite möglichst frühzeitig erkennen, nicht erst, wenn es zu bleibenden Einschränkungen gekommen ist, sondern bereits bei kleinen Veränderungen eingreifen.
Es sollen sowohl die Symptome auf Patientenseite genau erfasst werden, als auch das Fortschreiten der Erkrankung aus Ärztesicht.
Seit wann gibt es die digitalen Funktionstests und wie helfen sie dabei die neurologische Untersuchung objektiver zu machen?
Die neurologische Untersuchung ist schwer quantifizierbar. Man weiß nicht, wie viel schlechter zum Beispiel die Kraft oder das Sehen geworden ist.
Der seit mehreren Jahren eingesetzte Tablet-Tests hingegen, misst die Sehkraft auf die gleiche Art, der Kognitionstest funktioniert immer gleich und muss innerhalb eines festen Zeitfensters absolviert werden und die Gehstrecke ist immer gleich lang und man vergleicht die benötigte Zeit. Dabei werden die Daten von einem Patienten über den zeitlichen Verlauf miteinander verglichen. Das erlaubt eine deutlich präzisere Bestimmung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten.
Werden die digitalen Funktionstests demnächst per App oder online möglich sein?
Es wird gerade an einer App gearbeitet. In einer großen Anwendungsstudie soll nun ausprobiert werden, wie gut die Tests, die zuhause angewandt werden können, auch durchgeführt werden. Und wie nützlich die daraus entstehenden Daten sind. Die Studie startet im Herbst 2021. Für das regelmäßige ausfüllen und nutzen können Punkte gesammelt werden, die dann wiederum zu einem kleinen Obolus führen. Es wäre natürlich großartig, wenn die Tests, die man in entspannter Atmosphäre durchführen kann, zuhause mittels App oder Tablet genutzt werden.
Gerade wird in Dresden auch untersucht, wie Patienten, die Tests (Tablet, Ganganalyse) empfinden und wie schwer ihnen die Durchführung fällt. Dabei kam heraus, dass die meisten Patienten, absolutes Verständnis haben und gerade die Patienten mit größeren Einschränkungen noch eher von der Sinnhaftigkeit überzeugt sind. Wichtig ist, dass PatientInnen merken, dass die Daten nicht nur gesammelt werden, sondern direkt zu einer besseren Betreuung und Behandlung bei ihnen selbst führen.
Welche Bedeutung hat die Ganganalyse und welche neuen technischen Hilfsmittel helfen ihnen dabei Beeinträchtigungen früher wahrzunehmen und gegenzusteuern?
Der Gang ist für den Neurologen besonders wichtig. Man schaut, wie der Patient in das Behandlungszimmer läuft. Wenn man viel Erfahrung hat, sieht man als behandelnder Arzt, ob ein Patient schlechter läuft als beim letzten Mal.
Bei der Ganganalyse werden an den körpernahen Extremitäten kleine Sensoren umgeschnallt (Handgelenk, Beine). Der Patient läuft dann mehrfach über einen Spezialteppich voller Sensoren und führt verschiedene Bewegungen durch. Der zeitliche Aufwand ist gering und die Daten aussagekräftig und gut vergleichbar, um bereits frühe Veränderungen zu messen. Im späteren Verlauf werden ebenfalls feinere Abstufungen gemessen, um beispielsweise die Sturzanfälligkeit besser einschätzen zu können.
Die Kraftmessplatte bietet eine weitere Möglichkeit, Kraft und Gleichgewicht zu messen und das für jedes Bein extra.
Untersuchungen müssen mit wenig Zeit und Aufwand durchgeführt werden und das bei jedem Patienten mindestens einmal im Jahr, ohne die Datenspeicherung zu überfordern. Dann macht es Sinn im Alltag und bringt langfristig nützliche Daten für Arzt und Patienten.
Einen genauen Einblick in die Tests erhältst Du in Folge 98 mit Max zur Kraft, Ausdauer, Balance.
Wie haben sich die Studien in den letzten 20 Jahren verändert? Gibt es andere Schwerpunkte oder sind neue Aspekte hinzugekommen?
Viele Patienten denken bei Studien immer nur an klinische Studien zu neuen Medikamenten. Es gibt aber auch ganz viele Studien, die zu einer besseren Diagnostik beitragen.
Wichtig bei einer Studie ist, dass sie immer unter den gleichen Rahmenbedingungen durchgeführt wird, egal ob es um die Dauer geht oder eine bestimmte Art der Auswertung von MRT-Bildern. Wenn man immer wieder die gleichen Rahmenbedingungen anwendet und die gleiche Fragestellung nutzt, kann man am Ende eine valide Aussage treffen, zum Nutzen einer neuen Art der MRT-Auswertung, wie gut sich Tablettests zuhause durchführen lassen, der Aussagekraft bestimmter Blutwerte, und vielen mehr.
Die neue Studie zur App, um Tests zuhause durchzuführen, könnte zum Beispiel ein deutlich genaueres Bild vom Ist-Zustand wiedergeben, weil es mehr Messungen gibt, als bei einem Test, der nur alle drei Monate durchgeführt wird, wo die Tagesform viel stärker ins Gewicht fällt.
Für wen und welche Art von Terminen eignet sich die Videosprechstunde am MS-Zentrum?
Nicht für ein erstes Kennenlernen, aber für das Auswerten großer Datenmengen. Wenn viele Tests durchgeführt wurden, der Patient von weiter anreist, dann ist es eine gute Möglichkeit, um diese Daten auszuwerten. Die Videosprechstunde kann gut eingesetzt werden, um beispielsweise Medikamente, Nebenwirkungen, neue Symptome zu besprechen. Für simple Fragen ist es eine gute Ergänzung.
Was sind Konzept und Ziel der regelmäßigen Patientenfortbildung vom MS-Zentrum Dresden?
Die unterschiedlichen Bereiche aus der medizinischen Perspektive darstellen. Neuigkeiten zum MRT, aus dem neuroimmunologischen Labor und viele weitere. Denn nur der informierte Patient kann sehr bewusst Entscheidungen treffen für sein Leben und den Umgang mit der MS.
Die Veranstaltung fand vor Corona in Präsenz statt. Damals bestand der Nachteil für einige Patienten darin, dass sie nicht zum eigentlichen Termin da sein konnten, bei langer Anreise oder anderweitigen Verpflichtungen. Digital ist dieses Problem gelöst und durch die Aufzeichnung, kann der Podcast auch nachgehört werden.
Hier geht es zum Newsletter, um über die nächste Patientenfortbildung informiert zu werden.
Wann wird das digitale Patientenportal in den Regelbetrieb gehen und was wird darin alles gebündelt sein?
Parallel zur normalen Sprechstunde soll das digitale Patientenportal viel Verwaltungsaufwand übernehmen. Der Start wird voraussichtlich in 2022 sein.
Es wird einige Tage vor dem Termin im MS-Zentrum einen digitalen Check-in geben. Dort kann man überprüfen, ob die Medikamente noch stimmen, ob etwas MS-Relevantes vorgefallen ist, seit dem letzten Termin und welche Untersuchungen genau anstehen.
Dann findet die Untersuchung statt. Das Tool soll erkennen, wo gerade eine Station frei ist, um die Wartezeit so gering, wie möglich zu halten.
Nach der Untersuchung, erfolgt 3-4 Tage später der Check-out. Dort wird zusammengefasst, was ich mit dem Arzt besprochen habe, meine Laborwerte sind verfügbar. Das alles wird in der ersten Version zu finden sein.
Perspektivisch soll das Patientenportal so ausgebaut werden, dass ich als MS-Patient einen weiteren Blick in die Zukunft habe, ca. zwei Jahre und quasi einen Fahrplan erhalte, der mir zeigt, wann das nächste MRT ansteht und andere Untersuchungen, wie die Blutabnahme. Damit kann ich als MS-Patient auch abgleichen, ob alles so lief, wie geplant oder abgewandelt wurde.
Das Portal soll auch Patienten zur Verfügung stehen, deren Arzt es nicht nutzt. In dem Fall trägt der MS-Patient seine Daten ein und erhält eine Übersicht, welche Untersuchungen wann Sinn machen.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff der E-Health-Gesundheitsökonomie und welche Relevanz hat er für MS-Patienten?
Hier soll gezeigt werden, welche Ersparnisse es der Gesellschaft bringt, regelmäßig Sport zu machen, Physiotherapie zu erhalten oder ein Medikament zu nehmen, dass die Multiple Sklerose in Schach hält.
Dadurch kann man Innovationen belohnen und unnütze Untersuchungen, Medikamente, etc. nicht länger finanzieren.
Ein Beispiel ist das MRT. Jeder Radiologe bekommt die gleiche Bezahlung, egal ob die Daten keine Auswertung zulassen oder qualitativ sehr hochwertig sind. Ein hochwertiges MRT zeigt viele Details und den Verlauf der Entzündungsaktivität und des Gehirnvolumens über die Zeit. Es können MRTs miteinander verglichen werden, die zu verschiedenen Zeiten durchgeführt werden, was wiederum die Aussagekraft für den Neurologen verbessert. In Zukunft sollte das gute MRT belohnt werden und das schlechte MRT durch Druck von außen der Vergangenheit angehören.
Qualität lässt sich über Kosten gut herausfiltern. Unter Medikament A gab es 20 Fehltage und unter Medikament B nur 5 Fehltage. Dann ist Medikament B offensichtlich besser und erfolgreicher. Diese Auswertung basiert selbstverständlich auf großen Datenmengen, da man so eine Aussage nie für einen Patienten alleine treffen kann.
In einem Projekt werden Krankenkassendaten ausgewertet. Anhand von Ausgaben für Medikamente und Behandlungen, die in Anspruch genommen werden, kann man sehen, wie eingeschränkt ein Patient ist.
Warum ist ein eigener Studiengang für Multiple Sklerose sinnvoll und wer sind geeignete Kandidaten?
Geeignete Kandidaten sollten einen Hochschulabschluss haben und medizinischen Background vorweisen. Dazu gehören Ärzte, Therapeuten, Naturwissenschaftler. Man lernt die Multiple Sklerose umfassend kennen. Der Wissensaufbau erfolgt systematisch von der Entstehung der Krankheit über die Diagnostik, das Auswerten von Statistiken, über verlaufsmodifizierenden Therapien bis hin zu symptomatischen Therapien. Wie behandle ich Spastik? Wie behandle ich Schmerzen. Es gehören aber auch die ganzen rechtlichen und sozialmedizinischen Dinge dazu.
Das kann sonst nur über Jahre an einem MS-Zentrum erlernt werden. Durch den Studiengang ist es neben dem Beruf innerhalb von zwei Jahren möglich.
Welche Vision verfolgen sie für die Behandlung der MS-Patienten?
Unsere Vision für 2030 ist der digitale Zwilling, eine digitale Datenmenge, die dem behandelnden Arzt zeigt, wie sich die Krankheit darstellt. Das bedeutet, dass wir die Krankheit in ihren verschiedenen Verläufen verstanden und erfasst haben.
Der digitale Zwilling ist kein eigentlicher Zwilling vom Patienten, sondern das eine Gesicht aus den 1.000 Gesichtern, das zu mir als individuellem Patienten am besten passt und meinen voraussichtlichen Weg und das Ansprechen auf Therapieoptionen und Lebensstil inklusive Änderungen darstellt.
Es ist vielmehr eine Ansammlung von Daten der Vergangenheit, die einen Blick in die Zukunft ermöglicht, ähnlich der Wettervorhersage. Und am meisten nutzt es, wenn jeder einzelne MS-Patient dieses Wissen nutzen wird, um bewusst Entscheidungen zu treffen, aber auch Handlungsoptionen zu kennen an verschiedenen Stationen in seinem / ihrem Leben.
Da es sich um ein lernendes System handelt, ist es entscheidend viele Daten zu haben und weiter zu füttern, um immer bessere Voraussagen treffen zu können.
Das ist dann der Schlüssel zu einer individualisierten Therapie.
Beim Thema Kognition ist die Herausforderung besonders komplex, da viele Faktoren mit hinein spielen. Zukünftige Systeme werden gewiss auch diese Komplexität mit abbilden können.
Verabschiedung
Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?
Unterstützen sie uns bitte bei Studien. Wissenschaftliche Studien werden systematisch in allen möglichen Bereichen durchgeführt. Sie ermöglichen uns die Multiple Sklerose immer besser behandeln zu können. Dafür brauchen wir ihre Mitarbeit. Nur so können wir Innovationen voranbringen. Vielleicht empfinden sich den systematischen Ansatz manchmal als nervig, aber er bringt die Behandlung voran. Digitale Unterstützungen müssen ebenfalls getestet und überprüft werden, um zu sehen, was es bringt, was der Mehrwert ist und wie es weitergehen kann.
Dabei muss es stets darum gehen, eine sinnvolle Studie durchzuführen, die am Ende dem Patienten nutzt.
Wie bleibt man über alle Neuerungen am MS-Zentrum Dresden bestmöglich informiert?
Hier auf MS-Perspektive reinhören, da sind wir regelmäßig mit verschiedenen Experten zu Gast und berichten über die neuesten Themen.
Dann gibt es unseren eigenen Patientenpodcast, der einmal im Monat stattfindet und den gerne alle live oder später hören und sehen können, die daran interessiert sind.
Die Einladungen zum Patientenpodcast werden über den Newsletter verschickt. Abonnieren lohnt sich.
Bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele
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Hier findest du eine Übersicht zu allen bisher veröffentlichten Podcastfolgen.
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