Heute begrüße ich MS-Patient Christian Schmalstieg im Interview, der sich schon länger für Inklusion und Diversität einsetzt. Christian erhielt 2017 die Diagnose Multiple Sklerose, vermutlich fünf Jahre nach seinem ersten Schub. Für ihn bedeutet Diversität, dass jeder Mensch so leben darf, wie er das möchte und dabei in keinerlei Hinsicht diskriminiert wird. Um diesem Ziel näherzukommen, geht er aktiv auf politische Vertreter zu und nutzt seine Präsenz in den sozialen Medien, um die Gesellschaft für Vielfalt und Offenheit zu sensibilisieren.
Dabei erzählt er ganz ehrlich seine Geschichte und der Zuspruch den er erhält bestärkt ihn darin, damit fortzufahren. Wir sprechen über seinen Weg mit der MS und sein ehrenamtliches Engagement.
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Inhaltsverzeichnis
Vorstellung - Wer ist Christian Schmalstieg?
Christian wurde in Mettmann geboren und wuchs in Erkrath (Düsseldorf) auf. Seit 2013 lebt er in Dortmund. Er ist seit zehn Jahren mit seinem Mann zusammen und die beiden haben 2018 geheiratet. Die Familie wird durch zwei Labradore komplettiert – Barney & Cooper. Christian ist 37 Jahre alt. Zu seinen Hobbies zählen Sport, seine Familie, Musik hören, Wissen mehren und seine Leidenschaft/Passion/Berufung ist sein Ehrenamt.
Diagnose und aktueller Status
Wann erhieltest du die Diagnose MS und was war der Anlass dafür?
Das war 2017 nach dem ich jahrelang (seit dem Tod meiner Mutter 2014) unter schweren Depressionen litt, diese aber auch trotz Therapie nicht besser wurden und man organischen Schäden ausgeschlossen hatte.
Hattest du bereits vorher Symptome, die du rückblickend mit der MS zu tun hatten?
Rückblickend weiß ich nun, dass ich 2012 vermutlich meinen ersten Schub hatte, der aber nicht als solcher erkannt wurde. Es kam zu Ausfällen in meinen Beinen, die als Bandscheibenvorfall oder Nervenblockade abgetan wurden. Zudem kamen im Studium vermehrt Probleme mit Konzentration und Co. auf, was auch der Grund dafür war, dass ich das Studium aufgab. Des Weiteren war ein plötzlicher Libidoverlust vorhanden, den ich mir nicht erklären konnte, und der bis heute trotz Therapie und Co. nicht wettzumachen ist.
Wie hast du die Diagnose aufgefasst und wie war es für deine Liebsten?
Zum Zeitpunkt der Diagnose ging es mir aufgrund der Depressionen sehr schlecht. Keine drei Wochen zuvor hatte ich erst eine dreizehnwöchige ambulante Tagesklinik verlassen. Man sollte eigentlich meinen, dass es einem Betroffenen danach besser geht. Doch ich fiel in ein noch tieferes Tal der Resignation.
Hinzukam, dass der Radiologe auch multiple Gehirntumore nicht ausschließen wollte, weil das Kontrastmittel bei mir anschlug und mein Gehirn wie Konfetti aussah. Die Diagnose habe ich als Lebensende verstanden. „Was soll denn noch alles hinzukommen? Womit hatte ich das verdient?“, waren meine ersten Gedanken.
Zugegeben, ich wusste zu dem Zeitpunkt fast gar nichts über MS und wie unberechenbar und mannigfaltig diese Erkrankung sein kann. Ich beschreibe es gerne so: Wenn Du eh schon im dunklen Keller der Resignation auf dem kalten Boden der Lebensmüdigkeit sitzt und sich dann noch ein ewig scheinendes Loch auftaucht, das dich verschlingt. So fühlte es sich an.
Meinen Mann hat es auch umgehauen sowie mein Umfeld, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht registrieren, das war unmöglich.
Wurden dir zu Beginn verlaufsmodifizierende Therapien empfohlen und wie hast du dich entschieden?
Mir wurde die Entscheidung quasi abgenommen. Zunächst gab es eine subkutane Spritzentherapie, die mir weder geholfen hat, noch etwas für mich war. Zudem hatte ich noch unter diesem Medikament im Diagnosejahr drei Schübe.
Hast du bereits einen Therapiewechsel hinter dir und wenn ja, was war der Anlass dafür?
Zweimal habe ich bereits gewechselt. Der erste Wechsel war okay, bis auf die Nebenwirkungen, die mich zum Wahnsinn trieben. Grund war die hohe Krankheitsaktivität. Der zweite Wechsel war aufgrund der anhaltenden Nebenwirkungen über zwei Jahre hinweg. Das aktuelle Medikament vertrage ich seit 2019 gut und hatte bislang nur einen Schub darunter.
Nutzt du symptomatische Therapieangebote? Wenn ja, welche?
Manuelle Therapie, Physiotherapie, Sport, Bewältigungs- und Entspannungsverfahren, Medikamente und Ernährung gehören zu meinem täglichen Plan.
Wie hast du nach der Diagnose deinen Lebensstil angepasst?
Zunächst gar nicht. Ich bin in Lethargie gefallen, kein Wunder. Ab 2019 haben wir dann unsere Ernährung angepasst und ich fing an mich zu bewegen. Zuerst nur kleine Spaziergänge, heute sieht es da ganz anders aus…
Wie blickst du auf deine Zukunft und haben sich deine beruflichen und privaten Pläne verändert?
Meine Diagnose war eine Zäsur, die alles für immer verändert hat. Ursprünglich komme ich aus dem Vertrieb und habe zuletzt schon als Sachbearbeiter für regenerative Energien gearbeitet. Nun, jetzt bin ich rückwirkend auf Lebenszeit Rentner. Das hindert mich aber überhaupt nicht, ehrenamtlich tätig zu sein. Im Rahmen meiner gesundheitlichen Möglichkeiten.
Tagtäglich sehe ich viele Missstände und Bedarfe, die es in unserer Gesellschaft gibt. Nur setzen sich zu wenige Menschen dafür mit Herzblut und ernstgemeintem Interesse für sich und andere Menschen ein. Das ist die Grundmotivation meines Engagements: Strukturelle Veränderungen, von denen jeder Mensch profitiert.
Was war dein tiefster Punkt mit der MS und wie hast du dich wieder rausgekämpft?
Mein absoluter Tiefpunkt war die Diagnose, wie bereits erwähnt.
Was mir geholfen hat wieder herauszufinden, war primär ich selbst und mein Antrieb, niemals ganz aufzugeben, der Wille weiterleben zu wollen.
Konkrete Maßnahmen waren neben Psycho-, auch Physiotherapie, tägliche Spaziergänge, Medikamentenwechsel, aber auch Ernährungsumstellung. Immer weiterzumachen: Heute mache ich 3-4x Woche Sport, gehe weiterhin 2x zur Physio, nehme Medikamente, gehe täglich spazieren und meine 10.000 Schritte am Tag.
Das geht aber auch nur, weil ich mich aktiv dafür entschieden habe, mich weiterzuentwickeln
Wie geht es dir aktuell mit der MS?
Ich habe sie aktuell gut im Griff. Zwar nerven mich jeden Tag Fatigue und chronische Schmerzen, meine Blase sowie meine Spasmen. Aber hey, life is beautiful! Ich dränge sie (MS) auf möglichst kleinen Raum zurück und werde stets um jede einzelne Faser meines ZNS kämpfen. Klar soweit? 😉
Inklusion und Diversität
Wie definierst du Diversität und Inklusion? Was umfasst es alles für Dich?
Im Allgemeinen sage ich eines vorweg, das Grundlage meiner Überzeugung ist: Alle Menschen sind von Inklusion & Diversität betroffen! Nicht nur die, die einem unmittelbar in den Kopf kommen.
Diversität ist für mich, dass jeder Mensch so leben darf, wie er das möchte. Unabhängig von Herkunft, Sprache, Hautfarbe, Religion, sexueller Identität, Geschlecht, Alter oder dem körperlichen Befinden (Behinderung oder chronischer Erkrankung). Und weil jeder Mensch divers, also einzigartig, ist, sind wir alle auf die ein oder andere Art auf eine Inklusion angewiesen.
Manchmal wird die Diskussion zu engstirnig geführt und nicht ganzheitlicher gesehen. Ich gehe da einen anderen Weg, einen hoffentlich besseren.
Wie empfindest du den Ist-Stand beim Thema Diversität und Inklusion in Deutschland?
Ein bloßes Reinwaschen dreckiger Westen und kaum spürbares ehrlich gemeintes Lüftchen. Es gibt vereinzelt sehr engagierte Personen, Organisationen oder Unternehmen, die mit vollem Einsatz dafür einstehen. Inklusion und Diversität werden leider oft für egoistische oder gewinnbringende Vorhaben missbraucht und als Argument umworben. Dabei geht es den wenigsten Menschen um wahre Diversität & Inklusion. Denn darüber reden kann jeder Moderator, Professor, Coach oder CEO eines Unternehmens. Leben tun es die Wenigsten. Aber so langsam fangen einige wenige an, es zu verstehen. Ich habe Hoffnung…
Welche Stellschrauben haben deiner Meinung nach den stärksten Effekt?
Sichtbarkeit erzeugen! Dafür braucht es allerdings Menschen, die wie ich bereit sind, sich der Gesellschaft zu öffnen und ihre Geschichte erzählen. Ohne Drama. Niemand braucht eine Heulboje am Welt MS Tag, die auf großen Medienplattformen von Mascara verschmiert am Tropf des Todes hängt und sagt, wie grässlich diese Erkrankung ist.
Leider zählt Drama immer noch mehr als Qualität. Das bedeutet für vernünftige sowie authentische Aufklärung zu werben. Menschen die Berührungsängste zu nehmen, sie Fragen stellen lassen und Betroffene erklären lassen, die es ohne Drama hinbekommen. Ernstgemeinte Impulse in Richtung Politik und Gesellschaft senden und darauf hoffen, dass irgendwann ein Multiplikatoreffekt einsetzt, der sich auf die gesamte Gesellschaft ausbreitet.
Was motiviert dich so viel Zeit, Mühen und persönliche Einblicke in die Themen Diversität und Inklusion zu stecken? Was strebst du mit deinem Engagement an?
Wie ich schon sagte; ich sehe Bedarfe und Missstände, die nicht erst seit gestern existieren. Da war die Pandemie wirklich mal für was gut – sie hat unverzeihliche sowie eklatante Mängel aufgezeigt. Wie ein Brennglas. Das hat mich geprägt – Ich bin es leid ein Teil dieses Systems zu sein. Ein System, dass auf den Rücken meiner vielen WeggefährtInnen und mir so viel Unrecht passieren lässt.
Ich strebe nicht weniger an als einen gesellschaftlichen Wandel einzuleiten. Damit wir endlich die in unserer Verfassung gegebenen Versprechen erhalten. Alle Menschen sind gleich. Und da sind wir so weit von entfernt. Das kann mir kein Mensch erzählen, dass es keine Ungleichheiten gibt. Die Ungleichheiten werden immer extremer. Und das muss sich endlich ändern.
Wie kann jeder einzelne von uns dazu beitragen, dass die Gesellschaft inklusiver wird und Diversität mehr zu schätzen lernt?
Das kann schon im Kleinen beginnen. Einfach mal über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Nach links und rechts schauen. Den Leuten nicht nur vor die Fassade zu schauen, sondern viel mehr auch mal den Blick durch die Fenster zu wagen und den wahren Menschen dahinter erblicken. Hilfe anbieten, nicht nur fordern. Einfach mal das eigene Ego zurückstellen.
Damit würden wir der gesamten Menschheit sehr viel helfen. Da das keine Selbstverständlichkeit ist, muss von vorne begonnen werden und das Bewusstsein geschaffen werden, was zugleich der schwerste Teil ist. Dazu bedarf es Menschen, die authentisch und offen auf andere zugehen und zeigen wie das ist, so zu leben.
Wo siehst du die größten Herausforderungen für Menschen mit Multipler Sklerose?
Jeder meint MS zu kennen. Weil der Cousin vierten Grades dessen beste Freundin MS hat. Das macht Menschen vermeintlich zu Experten. Dass das aber ein Irrtum ist, weiß fast niemand. Außer uns Betroffenen und die, sich mit der Erkrankung beschäftigen.
Nicht umsonst sind es 1.000 Gesichter, die diese Erkrankung, selbst für Betroffene, schwermacht, zu verstehen. Der Fokus meiner Arbeit liegt darin Unsichtbares sichtbar zu machen. Gerade MS ist ein Paradebeispiel dafür, dass eine Erkrankung so viele unsichtbare Symptome und Behinderungen auszeichnet. Das ist für die meisten von uns eine doppelte oder mehrfache Belastung zur eigentlichen Erkrankung, die niemand braucht.
Hast du selbst schon mal Erfahrungen damit gemacht, jemanden ungewollt zu verletzten? Wenn ja, wie bist du damit umgegangen und was hast du daraus gelernt?
Ja, mir ist vor zwei Jahren eine Kritik völlig entglitten, wo ich zu stark gegen eine Frau ausgeteilt habe. Das war absolut falsch. Davon habe ich mich mehrfach distanziert und entschuldigt. Ich bedauere sehr, dass ich da im Affekt reagiert habe und mir geschworen sensibler und feinfühliger zu kommunizieren. Mittlerweile versuche ich über positive Kommunikation Menschen zum Nachdenken anzuregen und hinterfrage oft meine Aussagen, bevor ich auf „absenden“ klicke.
Wünsche und Ziele
Hast du einen großen unerfüllten Wunsch?
Ich habe viele Wünsche, auch den, gesund zu sein. Aber dass das aktuell noch unmöglich ist, weiß ich bestens. Stattdessen habe ich alternative Ziele formuliert. Eines davon ist, auch wenn es zunächst ausschließlich egoistisch klingen mag, Deutschland erstes queeres, schwerbehindertes sowie chronisch krankes Fitnessmodel zu werden. Nicht nur, weil ich vor meiner 40 so aussehen möchte. Sondern auch, weil ich anderen Menschen zeigen will, was trotz all meiner Einschränkungen machbar ist. Ich will ein Vorbild für andere sein. Egal ob krank, behindert oder gesund.
Welche Entwicklung wünschst du dir im Bereich Inklusion und Diversität in den kommenden 5 Jahren?
Dass viel mehr Menschen „aufwachen“ und die Bedeutung dieser Themen erkennen. Dass sich jeder Mensch davon betroffen fühlt und sich ebenso dafür engagiert. Und: Dass ich einen Anteil daran habe, dass ich damit der Welt etwas nachhaltiges vermachen darf.
Blitzlicht-Runde
Was war der beste Ratschlag, den du jemals erhalten hast?
When nothing goes right, go left!
Wie lautet dein aktuelles Lebensmotto?
Inklusion & Diversität: Jeder Mensch ist davon betroffen. Auch Du!
Mit welcher Person würdest du gern einmal ein Kamingespräch führen und zu welchem Thema?
Da gibt es so viele Menschen, denen ich was sagen möchte. Aber tatsächlich würde ich mir den Wunsch erfüllen, einmal mit der Sängerin P!nk einen völlig bekloppten Tag zu verleben, eines meiner Idole.
Vervollständige den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose... “
… ein Teil von mir, den ich mir nicht ausgesucht habe. Dennoch hole ich das Maximum aus meinem Leben heraus, jetzt erst Recht!
Welche Internet-Seite kannst du zum Thema MS empfehlen?
www.multiple-arts.com Die Homepage meiner Mentorin, ohne die es mein Engagement nicht geben würde.
Welches Buch oder Hörbuch kannst du uns empfehlen und worum geht es darin?
„Wie kann ich was bewegen?“ von Raul Krauthausen. Er ist einer meiner großen Vorbilder. Das Buch handelt vom Aktivismus und wie wir wirklich was in unserer Gesellschaft bewirken können.
Verabschiedung
Hast du einen Tipp, den du deinem jüngeren Ich geben würdest, für den Zeitpunkt der Diagnose?
Hör nicht auf andere! Vertrau Deinem Instinkt. Unsere Mutter hat uns auf diesen Augenblick vorbereitet Das wirst Du bald verstehen.
Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?
Es lohnt sich niemals aufzugeben, egal wie beschissen dein Leben aktuell auch erscheinen mag. Du findest Deinen Weg, auch wenn er noch im Verborgenen liegt. Aber der Tag wird kommen, Promise!
Wo findet man dich im Internet?
Auf Instagram und Facebook unter @multiplesenses85.
Bei LinkedIn unter meinem Namen Christian Schmalstieg.
Vielen Dank an Christian Schmalstieg für die Einblicke in die eigene Reise mit der MS und vor allem für all sein Engagement rund um die Themen Inklusion und Diversität!
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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