Heute begrüße ich Michael Helbing, der als staatlich geprüfter Atem-, Sprech- und Stimmlehrer und Atempädagoge unter anderem Menschen mit Multipler Sklerose dabei hilft, ihre Symptome besser zu beherrschen. Da Stimme und Sprache sehr wesentliche Elemente unserer Kommunikation mit anderen sind, können Einschränkungen zu erheblichen Diskriminierungen führen. Umso wichtiger ist es, sowohl das Selbstbewusstsein zu stärken als auch mit Atem-, Sprech- und Stimmtraining das Maximale aus den Gegebenheiten rauszuholen.
Ich habe extrem viel im Interview gelernt und bin froh um all die Unterstützungsmöglichkeiten, die die Logopädie zu bieten hat.
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Inhaltsverzeichnis
Vorstellung - Wer ist Michael Helbing?
Nele Handwerker: Hallo Herr Helbing, ich freue mich riesig, dass Sie heute mein Gast sind und uns Einblick geben in das Thema Logopädie bei MS, aber erst mal ein ganz liebes Hallo nach Hannover. #00:00:09#
Michael Helbing: Einen vielen Dank! Ich freue mich sehr, dass ich Teil dieses Podcasts sein kann und freue mich sehr auf das Interview. #00:00:16#
Nele Handwerker: Wunderbar! Und bevor wir richtig loslegen, wäre es natürlich total lieb, wenn Sie sich ganz kurz den Hörerinnen und Hörern vorstellen, wer Sie so sind, damit die wissen, wen ich heute hier zu Gast habe. #00:00:27#
Michael Helbing: Aber gerne. Mein Name ist Michael Helbing. Ich bin staatlich geprüfter Atem-, Sprech- und Stimmlehrer, Atempädagoge, Sprecher und Sänger. Und hier in Hannover habe ich eine Praxis für die Behandlung der Sprechstimme und der Singstimme – das Stimmkontor Hannover. Und mit meinem Team betreuen wir Menschen mit Atemwegserkrankungen, Stimmstörungen, Sprechstörungen, aber auch Menschen mit neurologischen Bewegungserkrankungen wie zum Beispiel Multiple Sklerose. Daneben habe ich mehrere Chöre, unterrichte Gesang und Sprechererziehung und bin in Europa unterwegs und bilde Therapeut*innen Ärzt*innen aus, aber auch Sänger*innen im Bereich Sprechen, Singen und therapeutische Arbeit. #00:01:11#
Nele Handwerker: Sie sind ein sehr umtriebiger Mann, haben viel zu tun, und ich habe ja auch gesehen, das fand ich auch total niedlich, dass Sie auch Märchen für Kinder… da machen Sie irgendwie auch sogar was, oder? #00:01:24#
Michael Helbing: Ja, ich bin ja auch Sprecher und daneben, dass ich auch einen Podcast habe und auch andere Sprechprojekte bin ich auch Erzähler und immer in der Weihnachtszeit schon seit vielen Jahren bin ich mit meinem Kollegen Dominic Richter unterwegs und wir sind in Kindereinrichtungen, Senioreneinrichtungen und lesen dort Märchen und haben auch verschiedene Märchenprojekte, wo wir auch dazu komponierte Musik haben, wo wir dazu singen und Geschichten in die Einrichtungen bringen. #00:01:51#
Nele Handwerker: Richtig schön, finde ich total klasse.
Persönliche Motivation für Beruf?
Nele Handwerker: Also Sie haben eine wunderschöne Stimme, das hört man schon; aber wie kam es, dass Sie gesagt haben: „Ich möchte gerne Atem-, Sprech- und Stimmlehrer werden.“? #00:02:04#
Michael Helbing: Das ist eine ganz interessante Frage, die ich mir auch gestellt habe, bevor ich hier in den Podcast gekommen bin. Und da ist mir eingefallen, dass ich als Allererstes eigentlich auf die Bühne wollte, und da wollte ich eigentlich Oper studieren oder Schauspiel und habe gedacht: „Bevor ich so ein Studium mache, engagiere ich mich und mache ein Freiwilliges Soziales Jahr.“ Und wissen Sie, da habe ich dann in Hamburg über das Elsa-Brändström-Haus eine Stelle angetreten, wo ich einen jungen Mann, der ein Jahr älter war als ich damals, 19 war er, betreut habe in seinem Alltag. Und dieser Mensch hatte eine Narbe im Stammhirn und hatte somit eine Dysarthrophonie, also eine neurogene Sprechstörung, konnte sich selbst nicht deutlich machen, nicht selbst für sich sprechen, so dass ich lernen musste für ihn übersetzen, also mit seinen Gästen, ihm praktisch ein Sprachrohr sein. Und das hat mich so fasziniert, diesen Menschen zu unterstützen in seiner Kommunikation, in seiner Teilhabe an der Gesellschaft, dass da in mir dieser Wunsch kam: „Ich möchte auch gerne Menschen unterstützen und am besten gerne beides können, also im Bereich Sprechen, Singen tätig sein, aber auch Menschen begleiten, die kommunizieren wollen, die so ihr Leben gestalten wollen.“ Und so kam ich letztendlich auf diese besondere Ausbildung in Bad Nenndorf, wo man Atem-, Sprech- und Stimmlehrer*in werden kann, wo praktisch das Heilmittel Logopädie ausgebildet wird, aber auch die Arbeit mit professionellen Sprecher*innen und Sänger*innen. #00:03:42#
Logopädie bei MS – behandelbare Symptome
Welche spezifischen sprachlichen und kommunikativen Herausforderungen treten bei MS-Patienten häufig auf?
Michael Helbing: Multiple Sklerose ist ja eine Erkrankung, die sehr vielschichtig sein kann. Wir nennen es ja nicht umsonst die Krankheit der tausend Gesichter. So gibt es verschiedene Menschen, die verschiedene Symptome aufweisen können. So ist es auch bei der Kommunikation. Wir haben einen großen Bereich von Menschen mit Multipler Sklerose, die bemerken, dass ihr Sprechen sich im Verlauf der Erkrankung verändert. Das fängt damit an, dass das Sprechen vielleicht langsamer oder im Sprachfluss, im Sprachrhythmus eingeschränkter ist, zum Beispiel, dass gewisse Silben schwieriger herauszubringen sind, dass das Sprechen manchmal verwaschen klingt, dass die Stimme vielleicht in ihrer Kraft eingeschränkt sein kann, dass sie zu leise, manchmal vielleicht aber auch unangemessen laut produziert wird.
Das kann zum Beispiel auch darauf zurückzuführen sein, dass die Atemmuskulatur betroffen ist von der Multiplen Sklerose und deswegen auch die Kraft, die wir beim Sprechen brauchen, die Atemkraft nicht mehr so abgerufen werden kann. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass die Stimme nicht mehr so belastungsfähig ist, dass sie irgendwann wegbricht, dass Heiserkeit, vermehrtes Räuspern und Husten auftritt. Es ist aber auch möglich, dass andere Teilbereiche des motorischen Kortex betroffen sind von der Multiplen Sklerose und dann die Modulationsfähigkeit der Stimme, die sogenannte Prosodie, dass man die Emotionalität des Sprechenden oder der Sprechenden erkennen kann, zu verschwinden droht. Man hört das ungefähr so, dass die Stimme plötzlich sehr monoton klingt. Das sind verschiedene Bereiche, die müssen nicht immer eintreffen, aber in meiner Praxis erlebe ich es immer wieder häufiger, dass Patient*innen mit Multipler Sklerose darüber klagen.
Interessanterweise ist es aber, dass in den Diagnostiken, wenn jetzt zum Beispiel bei der Neurologe*in eine Diagnostik durchgeführt wird, bei der Multiplen Sklerose, dass dieser Bereich ganz oft noch nicht so in das Bewusstsein fällt. Ganz oft fangen nämlich Menschen an, wenn die Stimme oder das Sprechen verwaschen ist oder etwas rauer klingt, da zu bagatellisieren und das in den Hintergrund zu stellen. Deswegen finden wir auch eher Multiple Sklerose-Patient*innen in der Logopädie, wenn es ums Schlucken geht, obwohl eigentlich genauso auch das Sprechen und die Stimme betroffen ist. #00:06:26#
Nele Handwerker: Ja, und vor allen Dingen bringt das ja dann wirklich Einschränkungen im gesellschaftlichen Miteinander. Also ich habe es auch, ich war einmal bei der Reha und da habe ich auch eine Dame erlebt, die war relativ stark betroffen und das war… also es war auch wirklich anstrengend, sozusagen zuzuhören, weil das dann, die Sinnhaftigkeit sozusagen von dem, was sie erzählt hat, wurde stark eingeschränkt durch dieses Monotone, durch die Pausen, die sie machen musste und und und. Also ich glaube schon, dass sie da große Probleme hatte, mit Leuten zu kommunizieren. Und wer sie mag, natürlich, der kommuniziert dann weiter. Aber Leute, die sie nicht kennen, die finden das dann vielleicht komisch und assoziieren dann auch falsch, also ziehen falsche Rückschlüsse.
Wie kann die Logopädie bei der Bewältigung von Sprech- und Sprachstörungen helfen, die durch MS-bedingte Lähmungen oder Muskelschwäche verursacht werden?
Michael Helbing: Logopädie ist als Heilmittel darauf ausgerichtet, Teilhabe zu ermöglichen, Teilhabe an der Gesellschaft, und Kommunikation ist ein wichtiges Bindemittel, um in der Gesellschaft gesehen zu werden, gehört zu werden. Laut der UN-Behindertenrechtskonvention von 2015 hat die Logopädie, überhaupt die Heilmitteltherapie, die Aufgabe Barrieren abzubauen, damit Hürden im Alltag gemeistert werden können. Logopädie hat hier die Unterstützungsfähigkeit durch Empowerment, das heißt strategische Planungen, um das Umfeld zu adaptieren, durch Aufklärungsgespräche, Beratungen des häuslichen, des gesellschaftlichen Umfeldes die Menschen im Umfeld der erkrankten Person zu schulen, sodass besser Rücksicht genommen werden kann. Logopädie vermittelt aber auch Strategien, um mit diesen Kommunikationseinschränkungen umgehen zu können, zu lernen, wie ich bewusst meine Stimme und mein Sprechen meiner Erkrankung nach angepasst verändern kann.
Grundsätzlich ist es aber auch wichtig für die Betroffenen zu wissen, dass sie etwas tun können, zu wissen, dass es gewisse Strategien gibt, die sie tun können, um in ihrem Alltag angepasst ihre Sprechweise umzusetzen. Für uns ist es aber auch wichtig oder für mich auch ganz persönlich, dass nicht nur der Mensch, der Multiple Sklerose hat, sich verändert durch eine Strategie, sondern auch lernt, dass ein gewisses Anrecht auf Teilhabe besteht, ganz gleich wie schwer oder nicht schwer eine Kommunikationsstörung vorhanden ist. Das heißt, in unserer Therapie geht es auch ganz oft darum, dass die Patient*innen lernen, dass eine Behinderung grundsätzlich nicht ein eigenes Verschulden darstellt, sondern dass sie ein Anrecht darauf haben, dass zum Beispiel die Partner*in zuhört, wartet und dass sie auch lernen müssen, innerhalb der Kommunikation mit fremden Personen sich ihrer Kommunikation zu behaupten, dass sie zum Beispiel in einer Rehabilitationseinrichtung, Sie hatten das gerade erzählt, was Sie erlebt haben, darauf hinzuweisen, dass sie vielleicht etwas mehr Zeit benötigen und darauf auch für sich einzustehen. Und Logopädie vermittelt all diese Bereiche, sowohl die Vermittlung der Adaption des häuslichen und des gesellschaftlichen Umfeldes, aber auch das Training von gewissen Strategien. Da wir es aber mit einer Erkrankung zu tun haben, die fortschreitend ist, ist es sehr wichtig, beide Faktoren im Blick zu behalten. #00:10:05#
Nele Handwerker: Ja, ganz, ganz wichtig, dass man da auch wirklich mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftritt.
Gibt es bestimmte Kommunikationstechniken oder -hilfsmittel, die bei der Verbesserung der Verständlichkeit und des Dialogs mit MS-Patienten nützlich sind?
Michael Helbing: Das ist sehr individuell. Es gibt keine Gewähr dafür, dass eine Strategie, die therapeutisch angeleitet wird, bei allen Patientinnen Umsetzbarkeit findet. Grundsätzlich sollte es eine ganzheitliche Strategie geben. Es sollte immer der gesamte Körper in der Therapie im Fokus stehen, das heißt, es sollten Übungen zur Position, zur Haltung umgesetzt werden, aber auch Strategien, um die Stimme zu kräftigen, ohne aber die Belastbarkeit und das Energiemanagement der betroffenen Person einzuschränken. Und deswegen steht finde ich als sehr, sehr wichtiger Baustein der logopädischen Therapie das Energiemanagement ganz vorne: Wie schaffe ich es, ressourcenorientiert in die Kommunikation zu gehen?
Dazu gehören Kommunikationsstrategien wie das bewusste Setzen von Pausen im Alltag, aber auch das bewusste Setzen von Sprechpausen, um Kräfte zu sammeln, aber auch Strategien, die die Atmung betreffen und die Sprechmuskulatur, dass ich hier bewusst und ökonomisch mein Sprechen, meinen Stimmeinsatz einsetzen kann, letztlich. Dann kommen natürlich dazu Stimmkräftigungsübungen, Techniken, die dafür sorgen, dass ich aus der Monotonie wieder zu mehr Modulationsfähigkeit finden kann. Es gibt auch Ansätze, wo Laute geübt werden, wo man mit Sprechtexten nach Hause geschickt wird, um da zu üben. Viel, viel wesentlicher ist es aber, diese Ökonomie beim Sprechen zu berücksichtigen, weil eben viele Patient*innen mit Multipler Sklerose auch mit einer Fatigue betroffen sind und diese natürlich auch sehr enorm auf die Sprechmuskulatur und die Atemmuskulatur wirkt. Und deswegen ist es hier wichtig, Ökonomie zu schulen. Und damit haben wir zum Beispiel im Stimmkontor sehr gute Erfolge gemacht, hier wirklich regenerativ zu denken, dass Patient*innen lernen, einen ökonomischen, ressourcenorientierten Umgang mit ihrer Sprechstimme zu erlernen. #00:12:36#
Nele Handwerker: Super, ja, klingt total gut und auch plausibel, dass man natürlich individuell sich anschaut: Wie ist der Mensch, wie ist er auch vom Charakter; an welchen Stellen muss ich vielleicht mehr unterstützen? Keine Ahnung, ich bin beispielsweise ein ungeduldiger Mensch: Also wenn ich jetzt davon betroffen wäre, was natürlich irgendwann in Zukunft passieren könnte, müsste man wahrscheinlich stark daran arbeiten, diese Ungeduld ein bisschen in den Griff zu bekommen. Aber ja, auch das mit dem, genau, Kräftesparen klingt absolut nachvollziehbar.
Welche Rolle spielen Schluckstörungen und wie wichtig ist deren Behandlung, um die Lebensqualität hochzuhalten?
Michael Helbing: Sehr gerne. Ich denke, der Grund, weswegen wir bei den neurologischen Untersuchungen vor allem den Fokus der Schluckstörung wiederfinden in der Diagnostik, ist einfach auch die Schwere der Folge von Schluckstörungen, das heißt, Schluckstörungen müssen immer Vorrang haben. Auch wenn eine Patientin mit Multipler Sklerose Einschränkungen der Sprechstimme und der Kommunikation hat, sollte immer auch das Schlucken berücksichtigt werden und auch immer therapeutischen Vorrang haben, denn eine Schluckstörung kann massive Folgen haben. Wir können, wenn wir Schluckstörungen haben, Mangelernährungen bekommen, Mangelerscheinungen, aber auch Unterversorgung mit Medikamenten, wenn zum Beispiel Medikamente nicht richtig eingenommen werden können oder Patient*innen aufgrund von Angst, sich zu verschlucken, gewisse Tabletten nicht einnehmen, was durchaus vorkommt, weil sie Furcht davor haben, sich zu verschlucken. Dann kommt es zu Einschränkungen der Erkrankungssituation, weil ich nicht die Medikamente mir zuführen kann, die ich aber benötige.
Auf der anderen Seite ist das Risiko für infektiöse Erkrankungen der Atemwege sehr, sehr hoch. Wenn ich regelmäßig mich verschlucke, auch ganz gleich, was ich verschlucke, ob das nun Essen ist, Getränke, aber auch mein Speichel, ist das Risiko sehr hoch, eine Lungenentzündung oder eine bronchiale Entzündung zu bekommen, insbesondere dann, wenn ich in meiner Mobilität eingeschränkt bin. Man kennt das vielleicht; wenn wir Schluckstörungen haben, dann assoziieren wir das ganz oft mit Verschlucken, mit einer Lungenentzündung. Aber wir wissen seit den neuesten Studien auch, dass diese Lungenentzündungen vor allem dann auftreten, wenn Mundpflege eingeschränkt wird oder auch die Mobilität, weil Mobilität ist ein großer Garant für Belüftung unserer Lunge und damit auch für die Reinigung.
Habe ich also eine Schluckstörung und habe Schwierigkeiten in meiner Mobilisation, ist die Gefahr sehr, sehr hoch und meines Wissens nach um 40 % höher eine Lungenentzündung zu bekommen als ohne diese Immobilität. Das heißt, in der Diagnostik ist es sehr, sehr wichtig, dass auf Schluckstörungen geachtet wird, dass auch in der Therapie hier behandelt wird, ganz gleich ob Sprech- oder Stimmstörungen vorliegen. Es ist nur in der Vergangenheit so gewesen, dass die Sprech- oder Stimmstörungen so etwas außen vor gelassen worden sind, weil sie nicht lebensbedrohlich sind, was die Schluckstörungen letztendlich sind. #00:15:58#
Nele Handwerker: Ja, und in Dresden, ich bin ja in Dresden in Behandlung, da haben die übrigens, das fiel mir vorhin ein, dann habe ich es aber wieder vergessen, auch eine ganz spannende Studie, die… ich weiß gar nicht, ob die schon in Arbeit ist oder noch beginnt, wo die versuchen mittels künstlicher Intelligenz anhand von Stimmanalyse sich auch anzuschauen sozusagen die Auswirkung oder Fortschreiten der MS, was ich auch sehr, sehr spannend finde; aber die sind da sehr innovativ und die betrachten das Feld, aber ich denke auch, ich gebe Ihnen da recht, da muss noch einiges mehr passieren.
Logopädie bei MS – Therapeutische Ansätze und Übungen
Welche spezifischen logopädischen Ansätze oder Therapieprogramme haben sich besonders bei MS-Patienten bewährt?
Michael Helbing: Da kommen wir zu einem ganz spannenden Faktor, Sie haben auch gerade schon von der Forschung gesprochen: Das Problem der Forschung, gerade im logopädischen Bereich, auch gerade im deutschsprachigen Raum ist, dass wir viele Kerngebiete haben, Kernthemen, die beforscht sind, aber es noch eine große Zahl von Fachgebieten gibt, die noch recht untererforscht sind, und dazu gehören vor allem auch Stimmstörungen. Und Stimmstörungen in gewissen spezifischen Feldern sind einfach noch nicht so ausgereift innerhalb der Forschung und so finden wir sehr, sehr wenig auf Multiple Sklerose zugeschnittene Therapiemodelle, anders als zum Beispiel bei Morbus Parkinson, da gibt es ja eine klare Empfehlung der Therapierichtlinien. Da wird dieses Lee Silverman Voice Treatment durchgeführt, was ja mit sehr vielen Studien belegbar ist. Das haben wir hier bei Multipler Sklerose leider nicht. Da fehlt uns noch an der Stelle wissenschaftliche Arbeit.
Was sich aber in der Alltagspraxis durchgesetzt hat, ist eine Arbeit an den Patient*innen, Klient*innen, die sehr individuell ausgerichtet ist, eben nach der Situation. Wir sprechen hier von einer neurogenen Bewegungsstörung der Atem- und Stimm- und Sprechmuskulatur. Und hier hat es sich bewährt, Ansätze an die Atemmuskulatur zu geben, dass wir lernen, bewusst zu atmen, dass wir… strategisch zu atmen. Hervorzuheben sind hier die Strategien nach dem Konzept Schlaffhorst-Andersen, weil Sie hier sehr ressourcenorientiert arbeiten. Das Konzept Schlaffhorst-Andersen ist ein sehr altes Konzept, basiert aber darauf, ressourcenorientiert auf den individuellen Rhythmus der Atembewegung des Menschen zu gehen. Und das hat bei Multipler Sklerose den Vorteil, dass ich nicht zu viel ein- oder ausatme und damit Energie verliere, was manchmal bei Atemstrategien der Fall sein kann. Auf der anderen Seite hat sich in der Logopädie ein Training über die Resonanz und den Widerstand in der Resonanz bewährt: Das ist das sogenannte Konzept der Übungen mit teilweise verschlossenem Vokaltrakt.
Das sind Übungen, wo die Patient*innen zum Beispiel durch einen Strohhalm oder einen Schlauch ausatmen und dabei Töne machen. Und durch diesen Widerstand, der in diesem Schlauch oder dem Strohhalm entsteht, entsteht eine Gegendruckwelle, die dafür sorgt, dass die Muskulatur sich entspannt und die Stimm- und Sprechmuskulatur in eine optimale Spannung versetzt wird, um zu agieren. Und da haben wir sehr gute Erfolge verzeichnen können. Wir können auch sehen, dass die Patient*innen sehr gut auf Übungen ansprechen, wo eben diese Widerstände gesetzt werden. Das kennen Sie vielleicht zu Hause, dieses Summen, wobei man vielleicht kaut, vielleicht aus dem Chorunterricht, wo hier Übungen durchgeführt werden. Ich kann das mal hier einmal machen. (summen)
In diesem Fall fungieren die geschlossenen Lippen als der Widerstandspunkt, der diese Gegendruckwelle auslösen kann. Auf der anderen Seite finden sich dann gewisse Lautübungen, die Klangspektren möglich machen. Und das ist zum Beispiel eine gute Strategie, wenn es um Monotonie geht und um Modulation, dass man aus dieser Monotonie des Sprechklangs herausgeht. Aber da muss ich Sie an der Stelle leider enttäuschen, ein dezidiertes Konzept für Multiple Sklerose gibt es leider noch nicht. Und ich würde an der Stelle sogar die Frage aufwerfen, ob wir ein direktes Konzept hier benötigen. Ich denke, es ist grundsätzlich wichtig, dass Patient*innen mit Multipler Sklerose zur Logopädie überhaupt kommen, dass ihnen der Zugang ermöglicht wird, dass sie eine individuelle, auf sie zugeschnittene Therapie bekommen, die zum Beispiel diese Atemstrategien, diese Stimmstrategien bekommen und praktisch individuell mit ihrem eigenen Instrument, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, lernen können zu kommunizieren. #00:21:06#
Nele Handwerker: Ja, klingt absolut danach, dass das Individuelle natürlich gut ist. Und ich denke, Ihre hervorragenden Erklärungen und Ausführungen tragen dazu bei, dass hier bestimmt mehr Bewusstsein geschaffen wird und vielleicht die oder der ein oder andere sich dann Hilfe sucht, den Neurologen, die Neurologin anspricht und sagt: „Ich würde da gerne mal was machen, mir ist aufgefallen, das ist nicht mehr so gut und ich würde gerne im Alltag wieder besser kommunizieren können.“
Wie kann die Atemkontrolle und -unterstützung bei der Verbesserung der Sprechfunktion bei MS-Patienten helfen?
Michael Helbing: Grundsätzlich ist es ja so, dass unsere Stimme hörbar gewordene Atmung ist. Wenn wir keine Stimme produzieren, dann ist unsere Atemmuskulatur dafür zuständig, dass wir Sauerstoff in der Einatmung zugeführt bekommen und dass wir in der Ausatmung Kohlenstoffdioxid ausatmen. In dem Moment, wo ich mich entscheide, etwas zu sagen, agieren unsere Stimmlippen, das sind so zwei kleine Lippen, die in unserem Hals im Kehlkopf sind, mit dem wir schlucken zum Beispiel. Also Sie kennen den Kehlkopf vielleicht, wenn Sie etwas runterschlucken und im Hals sich etwas nach oben bewegt, das ist der Kehlkopf. Und dadrin sind die beiden Stimmlippen, die sich schließen, wenn wir eine Stimmproduktion starten, und durch den Atemdruck werden diese beiden Stimmlippen in eine Schwingung versetzt. Und diese Schwingung zerteilt Luft und diese Luft nehmen wir als Klang, als Ton, Schall wieder wahr. Und je nachdem, was meine Mundhöhle macht, meine Zähne, meine Lippen, meine Zunge, verändert sich der Klang so, wie wir verschiedene Worte formulieren.
Bei der Multiplen Sklerose kann es sein, dass die Muskulatur, die für diesen Atemstrom, den wir ja brauchen, damit dieser Stimmschall entstehen kann, produziert wird, da kann es sein, dass die Muskulatur nicht so richtig funktioniert, dass sie entweder sehr langsam agiert, dass es vielleicht Spastiken, Spasmen gibt, dass es vielleicht weniger tief eingeatmet wird und nicht so optimal ausgeatmet wird. Und da kann es dann dazu sein, dass eben diese Schwingungen, die die Stimmlippen machen, eingeschränkt werden, dass wir zum Beispiel eine heisere Stimme haben, weil die Stimmlippen unter sehr viel Druck gesetzt werden, oder dass der Atemstrom sehr, sehr schwach ist und (leise) wir deswegen sehr, sehr traurig sind und sehr wenig Klang produzieren können.
In der Therapie lernen die Patient*innen, die Muskulatur der Atmung zu stärken und richtig einzusetzen. Und das ermöglicht, dass die Stimmlippen wieder verbessert schwingen können. Da hinzu gehört natürlich auch die Muskulatur des Sprechens, also die Lippen-, die Zunge-, die Kiefermuskulatur, die die Laute bildet, so dass wir O von einem A unterscheiden können. Und dieses Zusammenspiel aus der Muskulatur, die wir zum Sprechen brauchen und der Muskulatur, die wir zur Atmung brauchen, dieses Zusammenspiel wird in der Logopädie trainiert und dann haben wir unter Umständen wieder einen optimierten Klang, mit dem ich wieder besser artikulieren kann. Somit stellt die Atemkontrolle ein wichtiges Element dar, aber nur im Zusammenhang mit der Bildung von Lauten. #00:24:33#
Nele Handwerker: Sehr schön. Ich lerne unglaublich viel im Podcast mit Ihnen. Ich meine, es funktioniert ja bei mir alles, insofern muss ich mich damit nicht auseinandersetzen, aber es ist total spannend, mal ein bisschen in die Tiefen der Logopädieatemsprechstimmtechniken einzusteigen.
Welche Rolle spielt die emotionale Ausdrucksfähigkeit und die Stimmemotionen bei MS-Patienten, und wie können diese Aspekte behandelt werden?
Michael Helbing: Das ist ein unheimlich wichtiger Aspekt. Ich glaube, das hat man vielleicht sogar schon am Anfang in meinen Ausführungen gehört: Die Teilhabe ist so ein wichtiges Gut für uns alle Menschen und vor allem für Menschen mit Behinderungen ist es wichtig, dass wir Teilhabe leben können, dass wir keine Exklusion erleben, sondern dass wir ein Belonging haben in unserem Alltag. Und da ist die Emotion unheimlich wichtig, dass die Patient*innen wieder die Möglichkeit bekommen, sich auszudrücken.
Mir geht es nie darum, dass Patientinnen in der Therapie eine Stimme bekommen, die schön klingt, weil das ein Bias ist, der sehr individuell ist, was schön ist, was nicht schön ist, was klanglich toll klingt. Es geht eher darum, dass ich mich ausdrücken kann. Und ob das nun mit einer lauten Stimme ist oder mit zum Beispiel einem Talk-Gerät bei den Patient*innen, die nicht mehr über diese Kraft verfügen, weil vielleicht die Krankheit sehr, sehr weit fortgeschritten ist, da kann es auch eine Strategie sein, zu lernen, dass ein Sprachausgabegerät für mich spricht oder dass ich gelernt habe, mit Gesten meine Sprechweise zu unterstützen oder dass ich im beruflichen Alltag gelernt habe, vermehrt E-Mails zu schreiben, um praktisch meine Teilhabe weiter zu bekommen.
Oder ich habe vielleicht ein Stimmverstärkungsgerät. Diese Geräte gibt es auch, die man zum Beispiel an den Kehlkopf hält und dann dadurch die Stimme grundsätzlich verstärkt wird. Es geht hier darum, dass ich lerne, mich auszudrücken, und die Emotionalität ist so ein wichtiges Gut und die kann nicht einmal durch den Stimmklang ausdrücken, was ich dann zum Beispiel in der Therapie da wieder lernen kann: Die kann ich aber auch ausdrücken über Gesten, über meine Gesichtszüge oder über das direkte Anschreiben mit E-Mails oder mit Sprachausgabegeräten. Grundsätzlich ist es aber wichtig, dass das im Zentrum steht, dass das der Motor von uns Therapeut*innen ist, dass sie kommunizieren können. Das Wichtigste an der Stimme ist ja vor allem, dass ich dir sagen kann, was mir gefällt und was mir vor allem nicht gefällt, dass Dinge vielleicht verändert werden, dass ich für mich einstehen kann und meine Gedankenwelt in die Welt hier draußen einbringen kann. Und da ist es vollkommen irrelevant für mich, ob das eine Stimme ist, ein Computer ist, ein geschriebener Text: Wir müssen den Patient*innen nur beibringen, dass sie lernen, das umzusetzen. #00:27:46#
Nele Handwerker: Absolut. Ja, und ich hatte gestern einen anderen Podcast aufgenommen, der wird ein bisschen vor Ihrem ausgestrahlt, mit Professor Skripuletz. Und da ging es auch einfach um das Ansprechen von Themen und das kann eben auch… da habe ich auch gesagt: „Und das ist auch okay, wenn man sich nicht traut, wenn man zum Beispiel schreibt, es kann ja auch sein, man kann nicht, dann muss man sowieso schreiben.“ Aber ich finde es auch so wichtig, sich auszudrücken und da seinen Weg zu finden und seinen individuellen Weg zu finden. Jetzt haben wir schon ganz viel darüber gesprochen, wie sehr es individuell ist.
Gibt es spezifische Empfehlungen oder Übungen, die MS-Patienten zu Hause durchführen können, um die Fortschritte in der logopädischen Therapie zu unterstützen?
Michael Helbing: Sehr gerne. Grundsätzlich, wenn Sie in einer logopädischen Behandlung sind, fragen Sie am besten Ihre Therapeut*in nach solchen Strategien, die am besten auch zu der Situation, in der Sie sich gerade befinden, passen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, dass Sie sich vorbereiten, dass, wenn Sie merken, dass Sie in Ihren stimmlichen, sprecherischen Qualitäten eine Einschränkung wahrnehmen, dass Sie sagen: „Ich gehe vorbereitet in eine Situation.“
Das bedeutet, dass Sie zum Beispiel zu Hause üben zu summen. Das können Sie ja gerne mal mit mir ausprobieren. Sie schließen die Lippen, lassen die Zähne locker geöffnet, das ist sehr, sehr wichtig und legen Ihre Zungenspitze vorne unten an das Zahnfleisch Ihrer unteren Schneidezähne. Diese Position ist sehr, sehr wichtig, damit Sie Raum in Ihrem Mund haben: Lippen schließen, Zähne locker geöffnet und die Zungenspitze vorne unten. Und jetzt produzieren wir einen Ton, der vielleicht so klingt, als würden Sie was ganz Leckeres gegessen haben oder sich auf etwas Leckeres freuen. (summen) Es hat so was sehr Geschmeidiges, sehr Wohltuendes. (summen) Dabei ist es sehr, sehr hilfreich, von oben nach unten zu gehen mit den Tönen. Das ist sehr angenehm und nicht so anstrengend, wie zum Beispiel von unten nach oben zu gehen. (summen)
Wenn Sie wollen, können Sie noch eine Kaubewegung durchführen mit dem Kiefer; das entspannt den Rachen und sorgt dafür, dass vielleicht so Kratzgefühle oder so Fremdkörpergefühle im Hals, die durch Spannungen entstehen, verschwinden können. Also kauen Sie auf einem imaginären leckeren Essen herum und summen Sie dabei ganz genüsslich. (summen) Diese Kauphonation, erstmals von einem großen Phoniater Herrn Fröschels entwickelte Übung, die zielt darauf ab, die Stimme zu aktivieren und sie jetzt, überspitzt gesagt, anzuwärmen. Wenn Sie das tun, auch in einer gewissen Regelmäßigkeit, dann sind Sie auch immer dabei, gegen monotone Sprechweisen zu arbeiten und auch immer sehr ressourcenorientiert, Ihre Stimme anzuwärmen. Dann ist auch immer sinnvoll an der Position zu arbeiten, das heißt, dass Sie schauen, dass wenn Sie sprechen, dass der Kopf möglichst aufgerichtet ist und nicht zu sehr auf die Brust fällt. Das hat den Hintergrund, dass wenn der Kopf nach vorne fällt, der Kehlkopf, also da, wo die Stimme entsteht, eingeschränkt werden kann. Je optimaler die Kopfposition, desto einfacher ist es auch zu sprechen.
An der Stelle rate ich von so Übungen ab, wo man so Grimassen schneidet, die Zunge irgendwo hintrainiert. Das kann in einigen Fällen sinnvoll sein, aber so als grundsätzlicher Ratschlag ist es viel sinnvoller, am Sprechen zu arbeiten. Das heißt, nehmen Sie sich lieber einen kleinen Sprechtext, das kann ein Zungenbrecher sein, ein Witz oder ein Satz, den Sie vielleicht sehr, sehr häufig sagen müssen, und sprechen Sie ihn besonders klar und deutlich vor. Ein letzter Impuls, den ich Ihnen geben möchte, ist, auf Ihre Stimme zu achten, das heißt nicht nur, sie anzuwärmen, etwas am Sprechen zu üben, sondern auch auf Ihre Stimme zu achten, damit sie regeneriert bleibt. Trinken Sie ausreichend. Was Sie trinken, das ist erst einmal irrelevant. Aber trinken Sie ausreichend Flüssigkeit, damit die Schleimhäute benetzt bleiben.
Wenn Sie in einer Umgebung sind, die sehr, sehr laut ist, dann vermeiden Sie es, gegen Lautstärke anzuschreien. Das ist nicht nur für Menschen mit Multipler Sklerose sinnvoll, sondern für uns alle. Gegen Störschall anzusprechen ist eher eine Art leises Schreien und das ist sehr, sehr anstrengend für die Stimme. Das heißt, wenn das nächste Mal ein Laster oder eine Straßenbahn vorbeifährt, vermeiden Sie es einfach, lauter zu sprechen, sondern warten Sie den Moment ab. Wenn Sie im Auto sitzen und der Motor sehr, sehr laut ist, dann ist auch der Ort nicht so günstig für ein Telefonat: Warten Sie lieber, wenn es etwas ruhiger ist.
Auch auf der Party oder einer Veranstaltung kann es sehr, sehr anstrengend sein, so lange auf Dauer gegen Störfall anzusprechen. Und dann gönnen Sie sich immer wieder Pausen, wo Ihre Stimme sich bewusst erholen darf. Wenn Sie auf Ihre Stimme achten und immer auf sie eingehen, werden Sie das Beste für sie herausholen können, zusätzlich zu all den Strategien, die Sie vielleicht in der Logopädie erfahren werden. #00:33:40#
Nele Handwerker: Wunderbar. Und ich muss, glaube ich, nach unserem Interview mal ganz stark üben, mehr Pausen einzubauen. Man kann Ihnen natürlich hervorragend folgen, weil Sie so schön all diese Pausen einbauen. Da habe ich Place for Improvement, wie man so schön im Englischen sagt. (lachen) Aber immerhin bin ich so selbstkritisch und nehme es wahr.
Logopädie bei MS – Herausforderungen und Anpassungen
Welche Anpassungen oder Empfehlungen sollten bei der logopädischen Behandlung von MS-Patienten mit koexistierenden körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt werden?
Michael Helbing: Ich denke, am Anfang steht hier für alle Therapeut*innen, für alle Menschen, die mit Menschen mit Multipler Sklerose arbeiten, einfach der Faktor der Belastbarkeit. Wir müssen sehr individuell auf Belastbarkeit eingehen, auf Fatigue. Es kann sein, dass Patient*innen sehr viel mehr Ruhephasen benötigen, dass sie unter Umständen eine geringere Belastungsgrenze haben, als wir es vielleicht von anderen Patient*innen erwarten können. Und hier ist die Kommunikation sehr, sehr wichtig, Patient*innen zu schulen, rückzumelden, wenn sie eine Pause benötigen, aber auch, dass wir als Therapeut*innen lernen, frühzeitig auch Pausen anzuberaumen, dass wir nicht zu viele Inhalte vermitteln, sondern uns auf die wesentlichen Kerne beziehen.
Ich empfehle zum Beispiel in der Therapie nicht mehr als zwei Kerninhalte innerhalb einer 45-Minuten-Einheit zu machen, weil eben die Belastungsgrenze eine ganz andere darstellt. Ich beschreibe es hier immer mit einem Handy-Akku, wo bei uns der Handy-Akku durch gewisse Tätigkeiten nur zu einem gewissen Teil abgesenkt wird und wir dann durch eine Pause diesen Akku relativ zügig wieder aufladen können, ist es bei Multipler Sklerose vor allem im Bereich Fatigue ganz oft so, dass er wesentlich schneller absinkt und auch die Ruhephasen wesentlich länger sind. Und wir wissen ja auch, dass Fatigue sich eben nicht nur durch eine Schlaf- oder Ruhephase auflösen lässt, sondern durch das bewusste, vorausschauende Planen, dass ich bewusst meinen Morgen so plane.
Und das ist, denke ich, ein ganz, ganz großer Faktor, mit dem wir viel bessere therapeutische Erfolge erzielen können. Und der andere Faktor, gerade im kognitiven Bereich ist, dass die Übungen, die angeboten werden müssen, alltäglich sein müssen. Sie dürfen nicht so kompliziert sein, und ich darf jetzt nicht 500 verschiedene Materialien brauchen, um meine Therapie durchzuführen oder um zu Hause etwas zu tun. Es sollte möglichst simpel sein, so wie das Summen oder wie das Trinken eine Strategie ist, oder den Kopf aufrecht zu halten, die relativ leicht ist.
Ein Beispiel, das ich hier nennen möchte, ist zum Beispiel Outside-the-Box zu denken. Gerade bei Patient*innen mit Multipler Sklerose, mit kognitiven Einschränkungen ist der Gesang eine hervorragende Möglichkeit, die Stimme zu schulen, ohne dass es zu komplex ist, weil das Singen an sich in der Gruppe oder alleine hat den Vorteil, dass all diese Faktoren, die Atmung, das Sprechen, die Artikulation, also die Art, wie ich Laute forme, trainiert werden über einen sehr basalen Weg, zum Beispiel über ein Lied, was ich biografisch kenne, was ich in meiner Kindheit schon immer gesungen habe. Und jetzt singe ich das, und ohne dass ich es bemerke, aktiviert sich meine Atmung, aktiviert sich meine Sprechstimme und habe ich relativ niedrigschwellig gearbeitet. #00:37:34#
Nele Handwerker: Ja, absolut. Und ich bin ja auch ein ganz großer Fan von vorbeugenden Maßnahmen. Die meisten, die die Diagnose MS bekommen, sind so zwischen 20 und 40. Ich habe auch eine kleine viereinhalbjährige Tochter. Einfach mit den Kindern mal singen, die Kinder freuen sich und dann kann man vielleicht auch schon Dinge trainieren, die noch gar nicht eingetreten sind, hoffentlich nie eintreten werden, aber einfach die Muskulatur unterstützen, die Artikulation unterstützen und vielleicht ein bisschen dafür sorgen, dass es gar nicht erst dahin kommt, dass man zu große Probleme hat. #00:38:08#
Michael Helbing: Was ich auch wichtig finde, gerade wenn wir von koexistierenden körperlichen Behinderungen sprechen, unterschätzen Sie die Multiple Sklerose-Patient*innen einfach nicht, also sie alle da draußen. Ich erlebe Patient*innen, die in Rollstühlen kletternd eine Wand hochgehen. Und das Bild muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass Multiple Sklerose ja eine Erkrankung ist, die mit sehr vielen Hürden einhergeht und auch sehr vielen Entsagungen, dass aber ganz oft Dinge möglich sind, die wir nicht für möglich unbedingt halten, und dass wir wirklich schauen, was können diese Menschen wirklich umsetzen. Und ich habe in diesen letzten Jahren, wo ich verstärkt mit dieser Klientel arbeite, so viele Dinge erlebt, wo ich sagen könnte: „Wow, was für einen Respekt es mir abverlangt diesen Menschen gegenüber.“ Und wenn ich daran denke, dass es Zumba-Klassen für Menschen mit MS gibt, die im Rollstuhl sitzen oder einen Rollator haben und trotzdem ihre Mobilität leben, feiern. Und das, denke ich, ist ein ganz wichtiger Impuls: Unterschätzen Sie die Menschen mit Multipler Sklerose nicht! #00:39:23#
Nele Handwerker: Genau. Vielen Dank für den Hinweis! Würde ich nicht machen, aber mit Sicherheit der ein oder andere draußen.
Wie wichtig ist die Einbeziehung der Angehörigen und Betreuer von MS-Patienten in den logopädischen Therapieprozess?
Michael Helbing: Der erste Punkt ist, dass niemand etwas für seine Behinderung kann, ganz gleich, wie die Lebensverhältnisse vor der Erkrankung ausgesehen haben. Es besteht für mich nach meiner Ansicht nach ein Recht auf Begleitung und auf Teilhabe. Und da Behinderung, für mich ist Behinderung ein sozialer Aspekt, nicht durch die Krankheit entsteht, sondern durch die Gesellschaft, ist es unabdingbar wichtig, dass die Gesellschaft lernen muss, ihre Hürden abzubauen. Ich sage immer zu den Patient*innen: „Stellen Sie sich vor, die ganze Welt hätte zum Beispiel nicht die Fähigkeit zu sehen mit den Augen. Dann würde die ganze Welt darauf ausgerichtet sein und niemand würde eine Behinderung erleben.“
Und deswegen gehört es ganz wichtig für mich in den ersten Stunden der Therapie dazu, den Patient*innen zu vermitteln: „Es geht hier nicht darum, dass Sie sich verändern, damit die Welt mit Ihnen zurechtkommt. Es geht darum, dass Sie hier lernen, sich selbst auszudrücken, wie Sie das wünschen.“ Dahingehend ist der erste Schritt, dass ich die Patient*innen in ihrem Empowerment unterstütze und dass ich dann mit Angehörigen, mit Betreuungsfachkräften, Pflegefachkräften im Gespräch ganz klar darauf hinweise, dass wir hier Teilhabe brauchen, um Behinderungen abzubauen, beispielsweise das Zuhören, dass wenn wir in einem Gespräch sind und das Familienmitglied unterbricht die Patient*in oder spricht für die Patient*in, dass ich das ganz klar anspreche, dass wir aufeinander warten, dass die/der Patient*in die Zeit hat, ja das Recht hat, die Zeit zu haben und dass die anderen darauf warten müssen, dass wir Kommunikationsstrategien erarbeiten, dass es darum geht, dass das System, in dem sich die Person bewegt, Rücksicht nimmt.
Und diese Rücksicht ist auch festgeschrieben im Grundgesetz. Und deswegen fordere ich das so stark ein, auch gegenüber den Fachkräften, weil wir, ich hatte es vorhin schon angesprochen, eine UN-Behindertenrechtskonvention haben, in der das festgeschrieben steht: Das ist unsere Aufgabe, hier Teilhabe herzustellen durch Abbau von Hürden. Und da schule ich ganz stark, also ich vermittle das den Patient*innen sehr vehement. Ich vermittle das in meinen therapeutischen Fortbildungen sehr vehement, dass mir das ein großes Anliegen ist, auch in meinem Wording, dass ich zum Beispiel versuche, mein Wording so zu wählen, dass es behindertenkonform ist, also behinderte Menschen unterstützt, dass ich gewisse Begrifflichkeiten versuche zu vermeiden, um hier die Menschen richtig zu erreichen, und dass ich dann auch, wenn ich Vorträge gebe und Schulungen für Fachpersonal oder Interessierte, dass das immer einen großen Faktor darstellt, weil ableistische Strukturen, die wir in unserer Gesellschaft bis zum heutigen Tag haben, können nur von der Gesellschaft aufgelöst werden.
Und ich erlebe es sehr, sehr häufig, dass meine Multiple Sklerose-Patient*innen internalisiert ableistisch denken, dass sie zum Beispiel diese behindertenfeindlichen Äußerungen, dass sie vielleicht der Gesellschaft zur Last fallen oder vielleicht doch sehr leistungsfähig sein müssen, weil sie ja Geld kosten, dass ich hier das auch erlebe, dass die Patient*innen das mitbringen, diese Gedanken. Und ich stelle Fragen, ich hinterfrage diese kritischen Gedanken, ob es wirklich so sein muss, dass ich als Mensch mit einer Behinderung hier diese Leistung überproportional anbieten muss, zum Beispiel am Arbeitsplatz, wohingegen ja Menschen ohne Behinderung das auch nicht müssen, 100 % Leistung zur Verfügung zu stellen. Und ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt, der unsere Therapie ausmacht, der aber auch die Aufklärung ausmacht, hier zu appellieren, dass ableistische Strukturen abgebaut werden müssen. #00:44:16#
Nele Handwerker: Ja, sehr gut. Ein sehr wichtiger Punkt war übrigens das, was ich in meiner Psychotherapie gelernt habe, aufzulösen, hatte da auch ein ganz großes Thema damit. „Oh Gott, meine Medikamente kosten so viel Geld, ich belaste die Gesellschaft.“ Da hat die arme Therapeutin glaube ich eine Weile dran arbeiten müssen, aber tat mir natürlich am Ende gut, als ich dann ein anderes Denken im Kopf hatte.
Logopädie bei MS – Angebote und Forschungsstand
Welche Arten von Unterstützung bieten Sie MS-Patienten in Zusammenarbeit mit der DMSG Niedersachsen an?
Michael Helbing: Ja, da bin ich auch sehr dankbar. Und es ist immer wieder faszinierend für mich, was aus diesem Kontakt der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft Niedersachsen entstanden ist. Also, ein großes Dankeschön an die Kolleg*innen aus der Geschäftsstelle in Hannover, insbesondere an die Frau Anja Grau für ihre unermüdliche Arbeit und Kooperation. Ja, die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft und ich arbeiten recht viel zusammen. Es begann alles vor vielen, vielen Jahren mit einem Kurs über Multiple Sklerose und Gesang und es hat sich auch gerade durch die Pandemie sehr viel entwickelt.
Ich denke, Teilhabe ist etwas, was Frau Grau und für mich und auch von mir sehr, sehr, sehr bewegt in diesem Kontext. Wir haben einen Online-Chor 2020 gegründet, mitten in der Pandemie wollten wir den Mitglieder*innen und auch denen, die interessiert waren und betroffen waren, von Multipler Sklerose ein Angebot bieten, um an sich zu arbeiten und auch mal den Alltag hinter sich zu lassen. Sie werden es nicht glauben, seit 2020 treffen wir uns im Schnitt ein-, manchmal sogar zweimal im Monat online und es sind immer zwischen 30 und 40 Menschen online zugeschaltet aus der ganzen Republik, stellenweise auch aus dem deutschsprachigen Ausland und wir singen.
Stellenweise habe ich die Menschen noch nie gesehen und auch nie gehört, weil die Mikrofone sind immer aus. Wir singen jeden Monat verschiedene Lieder, Dinge, die sich die Michael Helbing*innen wünschen. Wir arbeiten daran, gemeinsam uns einmal im Monat auf die eigene Stimme, die Atmung zu fokussieren. Und dass das seit 2020 so stattfinden kann, liegt an diesen vielen Michael Helbing*innen, die immer wieder kommen und sich ihre Regeneration holen und auch hier lernen, an sich, an der Stimme, am Sprechen zu arbeiten, über eine Leichtigkeit. Daneben haben wir jetzt seit diesem Jahr einen Präsenzchor, der hier im Stimmkontor stattfindet. Das sind immer so um die zehn Michael Helbing*innen hier vor Ort einmal im Monat singen. Und auch hier steht die Freude immer im Zentrum. Also es geht auch nicht darum, in beiden Projekten, dass wir perfekt singen, dass wir jetzt gleich eine Karriere starten. Es geht einfach darum, über die Gemeinschaft und über das Medium Gesang sich zu regenerieren und auch etwas Resilienz zu erfahren.
Dann arbeite ich mit der Frau Grau immer noch mit Aufklärungsarbeit zusammen, also wir haben verschiedene Aufklärungsworkshops, wo es zum Beispiel um Schluckstörungen geht oder auch: „Wie komme ich zur Logopädie? Was kann ich tun?“, wenn man vielleicht nicht in der Logopädie ist, aber merkt, „Oh, ich habe Schwierigkeiten, habe aber noch keinen Platz in der Neurologie oder bei der Testung bekommen, aber ich möchte mal unverbindlich so einen Workshop besuchen“, so etwas bieten wir an. Etwas, was mir auch sehr, sehr wichtig ist, ist zum Beispiel auch die Arbeit in der Außenwirkung, dass Multiple Sklerose mehr in der Gesellschaft ankommt, dass es bewusst wahrgenommen wird, dass wir mehr drüber sprechen, damit auch dann mehr Forschung gemacht werden kann. An der Stelle möchte ich Alex Blog hervorheben, ein Projekt der DMSG und auch von Alexander Gottschalk, der für die DMSG ein Blog geschrieben hat, über seine alltäglichen Erlebnisse mit der Multiplen Sklerose. Ein sehr bewegender Text mit sehr ehrlichen Dingen, die vielleicht andere nicht so unbedingt erzählen und sagen, Themen, die auch unangenehm sind im Fokus der Erkrankung und die er einfach anspricht.
Und da haben wir im Rahmen dieses Projektes einen Podcast auch gemacht, den man auch hören kann unter DMSG Podcast Alex Blog, wo ich die Ehre hatte, diese Texte für Alexander einzusprechen, um praktisch auch eine Stimme hörbar zu machen. Das sind so die Kernprojekte, wo wir uns drum drehen neben so Konzerten für Menschen mit Multipler Sklerose und deren An- und Zugehörigen. Und das ist so eine tolle Zusammenarbeit und ich bin sehr, sehr dankbar für diese Erlebnisse mit diesen wunderbaren Menschen, dankbar für die Eindrücke, die ich gewinnen kann, aber auch sehr beeindruckend, wie dieser Verein für Menschen mit Multipler Sklerose und deren An- und Zugehörigen wirkt, was für Möglichkeiten da bestehen, also das bewegt mich immer wieder. #00:49:37#
Nele Handwerker: Absolut. Und ich hatte auch schon mehrfach mit Frau Grau zu tun, hat mir schon mehrere spannende Interviewpartner vermittelt, war selber hier schon zu Gast. Ich habe die ganze Zeit schon überlegt, Sie haben doch bestimmt den Alex auch trainiert, weil er war ja auch mein Interviewgast im Alex Blog und da habe ich auch gemerkt, dass… also ich habe zwar gemerkt, dass ihm Sprechen nicht so leicht fällt, aber er konnte das sehr gut trotz eines höheren Einschränkungslevels ausdrücken und es war trotzdem ein sehr schön… Sie haben gesagt, schön ist immer relativ, aber es war ein sehr gut anzuhörendes Interview, weil er glaube ich gut trainiert wurde und vermutlich ohne das Training es ihm auch ein ganzes Stück schwerer gefallen wäre. Wenn man diese verschiedenen Angebote wahrnehmen möchte, geht man dann am besten auf die Seite der DMSG Niedersachsen beziehungsweise kontaktiert die oder findet man da auch Sachen auf Ihrer Webseite; wo wendet man sich hin? #00:50:34#
Wie regelmäßig finden diese Angebote statt und wie kann man daran teilnehmen?
Michael Helbing: Wenn Sie Interesse haben an unseren Projekten, die wir in der Kooperation mit der DMSG Niedersachsen machen, da ist es sehr, sehr sinnvoll, sich an die Anja Grau von der DMSG Niedersachsen zu wenden, denn darüber läuft sowieso die gesamte Anmeldung und das ist recht unkompliziert. Wenn Sie aber auch möchten, können Sie auf unsere Website gehen www.stimmkontor.com und auch darüber finden Sie Links, wo Sie sich anmelden können für die Projekte. Also wir haben das beidseitig geschalten, wobei natürlich der Kontakt von der Frau Grau dann der direktere Weg ist. Wenn Sie jetzt zum Beispiel Informationen möchten zur logopädischen Behandlung von Multipler Sklerose, da finden Sie auch auf unserer Website Informationsmaterial dazu, aber auch die Möglichkeit sich zu informieren über freie Therapie und Behandlungsplätze.
Aber sicherlich gibt es auch in Ihrer Gegend eine logopädische Praxis, die sich in diesem Bereich auskennt. Wichtig ist nur hier einfach auch die Fragen zu stellen, ob Kapazitäten vor Ort sind. Das ist mir ganz wichtig an der Stelle zu sagen, denn was die logopädische Behandlung betrifft, gibt es da draußen hervorragende, wunderbare, viele Kolleg*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Da bin ich nicht die Ausnahme, die das tut. Und deswegen ermutige ich Sie da draußen den Schritt einfach zu gehen, sobald Sie bemerken, dass Sie Einschränkungen bei Stimme, beim Sprechen oder auch beim Schlucken haben, wenden Sie sich an der Stelle schon auch bei Ihrer logopädischen Praxis in der Nähe, damit Sie da auch direkte Ansprechpartner*innen haben. #00:52:07#
Welche neuen Entwicklungen oder Forschungsansätze gibt es in der logopädischen Behandlung von MS-Patienten?
Nele Handwerker: Man sieht Sie jetzt gerade nicht: Sie sind offensichtlich nicht zufrieden mit der Situation. Ich kann ja Ihr Videobild sehen, die Hörerinnen und Hörer nicht. Aber jetzt bin ich gespannt auf die Antwort, die dazu kommt. #00:52:31#
Michael Helbing: Nein, ich bin natürlich nicht zufrieden mit der Situation. Das hängt aber damit zusammen, dass die Forschungsschwerpunkte ja ganz oft in Teilbereichen zu finden sind, auf die wir in der Berufspraxis so direkt keine Einflüsse haben. Es gibt Facharbeiten zu Multipler Sklerose, es gibt sehr gute Facharbeiten in Bezug auf Schlucktherapie. Es gibt tolle wissenschaftliche Studien im Bereich zu Gruppentherapie. Also da wissen wir mittlerweile, dass die Gruppentherapie bei neurogenen Bewegungserkrankungen und neurogenen Sprechstörungen sehr, sehr hilfreich ist, einfach weil man in diesem Empowerment-Faktor sehr viel lernen kann. Und das ist auch logopädisch möglich, es ist aber noch deutlich Luft nach oben.
Uns fehlen dezidierte Forschungen, Forschungsschwerpunkte für diesen Bereich. Aber da hakt es vor allem am Personal, denn Logopädie ist in unserem deutschsprachigen Raum ein Ausbildungsberuf überwiegend noch. Es wird gerade eine Bewegung losgetreten, Gott sei Dank, mit der Akademisierung, die ist auch sehr, sehr wichtig für die Logopädie im deutschsprachigen Raum, aber das erklärt auch, warum wir so wenig Facharbeiten haben. Und es ist sowieso so, dass wenn wir in der Logopädieforschung schauen, werden wir eher etwas zur Sprache finden oder zum Schlucken als zum Fachbereich Stimme. Und dieser Fachbereich Stimme ist deswegen so unterrepräsentiert, weil auch das einen kleineren Prozentsatz der Heilmittelverordnung betrifft, das heißt, die Notwendigkeit für die Krankenkassen, hier Forschung zu betreiben, ist natürlich auch immer an dem Bedarf orientiert.
Das heißt, wir brauchen mehr Aufklärung über Multiple Sklerose. Wir brauchen mehr Menschen, die bereit sind, in die Forschung zu gehen. Aber Sie werden mir Recht geben, die Forschung ist aktuell ja nicht in der Verfassung, dass es unbedingt freundlich ist, dort eine Zukunft zu finden und eine Zukunft zu sehen. Ich erinnere an Hashtag #IchBinHanna und alle anderen Strategien, die dahinterstehen. Wir haben aktuell eine Wissenschaftsflucht. Menschen, die im Mittelbau tätig sind, haben dieses Wissenschaftszeitvertragsgesetz, landen dann irgendwann in der Privatwirtschaft und stehen demnach der Wissenschaft und der Forschung nicht mehr zur Verfügung. Und wir brauchen einfach hier viel mehr Personal, bessere personelle Strukturen und dann sicherlich auch ändert sich das mit der Studienlage. Und das ist immer wieder ein großes Problem. Aber ich bin optimistisch, dass der wissenschaftliche Nachwuchs gerade bei den sprech-, sprach-, stimm-, schlucktherapeutischen Fachkräften zunehmen wird, weil ich sehr hoffe, dass die Akademisierung umgesetzt wird. #00:55:26#
Nele Handwerker: Ja, und wissen Sie, also mein Mann ist ja promovierter theoretischer Physiker, und wir hatten gerade einen lieben Freund von ihm da, und die haben sich mehr natürlich über die Physik unterhalten, wie es da ist, aber genau, diese Probleme, dass es für die Leute… die sehen im Prinzip keine Zukunft, genau und müssen dann, also werden in die Wirtschaft getrieben, weg von dem, worauf sie eigentlich Lust haben. Und die ganz Hartnäckigen bleiben natürlich trotzdem, aber man muss es schon sehr lieben. Und es ist nicht immer ganz einfach. #00:55:56#
Michael Helbing: Absolut. Also an der Stelle mag ich einfach meinen Partner erwähnen, Marco Miguel Valero Sanchez, der gerade seine Dissertation abgeschlossen hat, am Leibniz Center for Science und Society, wo es darum ging, dass er Menschen mit unsichtbaren Behinderungen interviewt hat und über deren Hürden im Alltag gibt es auch einen sehr tollen Vorlesebeitrag, auch ein sehr tolles Interview, was man online aufrufen kann unter seinem Namen. Und es ist doch stellenweise sehr erschreckend, wie hoch die Hürden schon sind, die ja schon für Menschen, die nicht behindert sind, enorm sind, allein dieser Wissenschaftszeitvertragsmoment, wo wir diese Kurzzeitverträge haben, wo der ganze Mittelbau ständig umziehen müsste, wo Geldmittel einfach mit sehr großen Hürden besetzt sind und dann die Professionen, die wir brauchen und diese Vielfalt der Wissenschaft einfach fehlt, weil die Menschen nicht bereit sind, ihr ganzes Leben lang von einem Projekt bundesweit zum nächsten Projekt zu ziehen und damit natürlich auch Familienplanung und auch Altersabsicherung und das System, in dem ich mich bewege, nicht umgesetzt werden kann. Und da sind wir auch wieder bei der Multiplen Sklerose.
Ich kenne hervorragende Wissenschaftler*innen mit Multipler Sklerose und das ist überhaupt gar kein Problem, wissenschaftlich zu arbeiten, wären da die Bedingungen nicht so extrem, mit denen diese Menschen zu tun haben. Denn da ist es besonders ungünstig, plötzlich den Wohnort zu wechseln oder auf Präsenzlehre angewiesen zu sein, oder dass es keine baulichen Veränderungen in gewissen Universitäten gibt, das kommt ja auch noch dazu, oder dass barrierefreie Dokumente nicht da sind. Ich könnte noch weitermachen. Und das zeigt sich natürlich auch darin wieder, dass uns dann gewisse Forschungsschwerpunkte fehlen, weil die Relevanz der Forschenden nicht da ist. Es werden natürlich mehr Leute zum Beispiel für ein gewisses Thema forschen, die auch selbst davon betroffen sind, das liegt ja auf der Hand. Und wenn uns aber ableistische Strukturen an der Hochschule oder der Universität begegnen, werden diese Forschenden eben nicht berücksichtigt werden. #00:58:13#
Nele Handwerker: Absolut. Ja. Leider, leider. Genau. Hoffen wir mal, ich bin ein positiver Mensch, hoffen wir mal auf Besserung. Das ist mir trotzdem lieber, als sozusagen den Kopf in den Sand zu stecken und zu weinen. Ja, irgendwann wird alles gut, brauchen wir jetzt hier glaube ich nicht weiter ausführen.
Wie wichtig ist die Motivation und Mitarbeit von MS-Patienten während der logopädischen Behandlung, und wie kann sie aufrechterhalten werden?
Michael Helbing: Es muss ein Ziel geben. Es braucht therapeutische Aufträge. Es heißt also, dass ich nicht zur Logopädie gehe und einfach darauf losarbeite oder dass die Ziele seitens des Therapeuten, der Therapeutin gefasst werden, sondern dass die Patient*innen mit einer Kernmotivation ausgestattet werden, dass gefragt wird: „Was ist Ihr Ziel, was wünschen Sie sich?“ Und wenn wir diese Motivation greifen können, zum Beispiel ich möchte wieder sicher ein Telefonat führen, ich möchte gerne einkaufen gehen, ohne dass ständig nachgefragt wird, was ich gesagt habe. Oder ich möchte wieder zu dem Chor gehen, in dem ich immer gerne gesungen habe und dort wieder ein Teil der Gemeinschaft sein.
Wenn wir so ein Ziel haben, dann ist Therapie auch immer sinnvoll. Ich finde es immer fraglich, wenn einfach nur gearbeitet wird, weil zum Beispiel eine behandelnde Ärztin, ein behandelnder Arzt das ausgegeben hat, gesagt hat, das müsste jetzt gemacht werden. Wir brauchen immer ein Ziel und dann haben wir auch die Motivation der Patient*innen. Und es braucht auch immer diese Bereitschaft: Ich muss auch bereit sein, Dinge zu verändern, Dinge vielleicht anders zu machen, als ich bisher gewohnt war, sie zu tun. Und da ist die Motivation dann ein Kern und wir als Therapeut*innen, wir müssen hier lösungsorientiert arbeiten. Wir müssen die Patient*innen begleiten und herauskristallisieren, was wirklich das Ziel ist, nicht das, was die Therapeut*innen wollen, beispielsweise wollen die Therapeut*innen oft ganz viel, viel mehr als die Patient*innen, sondern dass wir immer schauen, was ist das Kernproblem.
Beispielsweise habe ich eine Multiple Sklerose-Patientin bei mir betreut, die hatte fürchterliche Schmerzen beim Sprechen, die hatte immer so einen Hustenzwang und einen Räusperzwang, und dann haben wir gearbeitet und sie hat immer gesagt, es ist ihr wichtig, dass diese Schmerzen aufhören. Das hat sich immer so angefühlt, hat sie beschrieben, als würde jemand ihr mit den Händen den Hals zuwürgen beim Sprechen. Und nach einiger Zeit war eben das nicht mehr vorhanden. Und als ich sie dann gefragt habe, wie der aktuelle Ist-Zustand ist, hat sie gesagt, sie ist zufrieden, sie würde gerne die Therapie abbrechen, weil sie merkt das, was sie wollte. Das hat sie jetzt bekommen und damit würde sie jetzt einmal gerne wieder zurück in den Alltag gehen.
Das heißt, wir brauchen immer ein Ziel, einen Wunsch, einen Auftrag und dann können wir optimal arbeiten. Und das ist, glaube ich, der größte Motivator dahinter. Ein zweiter Aspekt, den wir nicht vergessen dürfen, für manche Menschen mit Multipler Sklerose stellt die Logopädie, aber auch manchmal auch die Physiotherapie oder die Ergotherapie einen der zentralen sozialen Momente der Woche dar. Das heißt, die Patient*innen kommen zu uns in die Praxis und erleben dort einen Raum, der wertfrei ist, der frei ist von ableistischen Strukturen und sie können sich in diesem Raum entfalten. Und auch das kann ein ganz toller Moment sein, wenn Patient*innen das erleben, wenn sie erleben, dass hier ein Ort ist, in dem sie sein können, so wie sie sind.
Und auch das ist ein großer Motivator, eine große Unterstützung, was auch sehr viel zum Therapieergebnis beiträgt. Und ich finde hier können wir diese Motivation hochhalten, zu uns zu kommen, diese aufregenden und zum Teil sehr amüsanten Übungen zu machen, wenn wir den Menschen einen Raum geben, in dem sie einfach so sein dürfen, wie sie sind. Und ich denke, mit diesen beiden Strategien schaffen wir es, unsere Patient*innen optimal zu unterstützen und die Motivation zu behalten. #01:02:23#
Nele Handwerker: Absolut, ja. Und sehr schön diese Geschichte, die Sie da mit uns geteilt haben, mit der Dame, die immer so Schmerzen hatte und dann einfach endlich diese Schmerzen los war, kann ich auch total gut nachvollziehen, dass sie gesagt hat, jetzt ist sie glücklich, jetzt ist sie zufrieden. Vielleicht kommt sie irgendwann später noch mal, aber das war natürlich ihr Hauptanliegen und da konnten Sie ihr weiterhelfen.
Verabschiedung
Welche Ratschläge oder Ermutigungen möchten sie Menschen mit MS mit auf den Weg geben?
Michael Helbing: Es ist nicht schlimm, sich Hilfe zu holen. So wie Sie zur Physiotherapie gehen, um Ihre Beweglichkeit zu trainieren, zur Ergotherapie gehen, um an Ihrer Kognition, also an Ihrer Gedächtniskraft, an der Lernleistung zu arbeiten oder an der Feinmotorik, so können Sie auch zur Logopädie kommen, um am Sprechen und an der Stimme zu arbeiten. Das kann auch sein, wenn Sie im Chor sind und plötzlich merken, dass aufgrund der MS… dass das Singen schwierig ist.
Dafür ist es da, dafür gibt es Therapie und dafür unterstützen Sie ganz viele wunderbare Kolleg*innen da draußen, die dafür sorgen, dass Sie begleitet werden, dass Sie Strategien an die Hand bekommen. Kommen Sie ruhig zu uns, suchen Sie sich eine Therapeutin, sprechen Sie Ihre Ärzt*innen an, Sie haben das Anrecht darauf. Ganz oft ist es uns nicht bewusst, dass wir an der Stimme, am Sprechen, an der Kommunikation was tun können. Aber so wie das für die Physiotherapie geht, für die Bewegung, so geht das für die Logopädie beim Sprechen. Sie sind nicht alleine. Wir unterstützen Sie gerne.
Und wenn Sie Fragen haben, dürfen Sie sich immer an eine logopädische Praxis in Ihrem Ort sicherlich wenden oder Sie können auch mir eine E-Mail schreiben und ich empfehle Ihnen auch gerne eine Kolleg*in in Ihrer Gegend weiter oder verweise Fachverzeichnisse, wo Sie Kolleg*innen finden. Nur suchen Sie sich Hilfe. Das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt, den ich ansprechen möchte, weil ganz oft im Alltag, auch auf ärztlicher Seite, wird die Stimme und das Sprechen vergessen, weil zum Beispiel das Schlucken viel, viel bedrohlicher ist im ersten Moment. Aber auch Sie haben eine Stimme und die hat ein Recht, gehört zu werden. #01:04:48#
Nele Handwerker: Sehr schön. Vielen Dank, Herr Helbing! Vielen Dank für all die Ausführungen, für all das Mutmachen, für all das Unterstützen, das Emotionale sozusagen dabei, an der Gesellschaft teilzuhaben. Sie hatten schon gesagt, Ihre Website-Adresse, vielleicht… ich verlinke das natürlich auch alles; vielleicht nennen Sie noch mal kurz Ihre E-Mail-Adresse, kommt alles in die Shownotes, auch natürlich hier noch mal abschließend. Ein ganz großes Dankeschön an Anja Grau von der DMSG Niedersachsen und auch die werde ich natürlich verlinken und ich verlinke am besten auch, wer da noch mal reinhören möchte, das Interview mit Alex und auch mit der Anja Grau. Da kann man auch noch mal da reinschauen, aber vielleicht zum Abschluss noch mal Ihre E-Mail-Adresse, weil Sie auch so schön angeboten haben, bei der Hilfe dann zu helfen, wenn man einen Logopäden vor Ort sucht. #01:05:39#
Wie kann man sie erreichen?
Michael Helbing: Gar kein Problem. Schreiben Sie mir gerne eine E-Mail unter [email protected] und dann leite ich Sie gerne weiter auf Fachverzeichnisse, wo Sie einfach die Postleitzahl eingeben können und dann finden Sie eine Kolleg*in in der Gegend. #01:05:55#
Nele Handwerker: Wunderbar, Herr Helbing, vielen, vielen Dank für Ihre Zeit! Vielen Dank wie gesagt für alles, was… worüber Sie hier aufgeklärt haben, für all Ihre verschiedensten Aktionen, um andere Logopäd*innen auch da weiterzubringen, um das Bewusstsein bei Ärzt*innen zu stärken und für all das Engagement um MS-Patient*innen und natürlich auch all die anderen Gruppen, denen Sie sich so widmen. Und dann hoffen wir mal weiter auf bessere Wissenschaftsstruktur und bessere Forschungsprojekte auch im Rahmen der Logopädie. #01:06:28#
Michael Helbing: Vielen, vielen Dank, Frau Handwerker! Danke für die Einladung! Es war mir eine große Freude. #01:06:33#
Nele Handwerker: Tschüss. #01:06:35#
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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