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#225: PPMS verstehen und behandeln – Einblicke von Dr. Thomas Knoll

Diesmal spreche ich mit dem Neurologen Dr. Thomas Knoll über die progrediente Multiple Sklerose, die die PPMS und SPMS beinhaltet. Bei beiden steht die Neurodegeneration im Vordergrund, die bisher kaum medikamentös behandelt werden kann. Umso wichtiger sind ein aktiver Lebensstil und die Akzeptanz der Diagnose, um mit Hilfe von symptomatischen Therapien, Hilfsmitteln und der Unterstützung durch sozialmedizinische Angebote die Lebensqualität bestmöglich zu erhalten. Dr. Knoll gibt seine Erfahrungen aus 30 Jahren als Neurologe weiter, wovon er einen Großteil mit dem Fokus auf MS verbracht hat.

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Inhaltsverzeichnis

Vorstellung – Wer ist Dr. Thomas Knoll?

Ich bin 57 Jahre, und arbeite seit 20 Jahren selbständig in einer großen inhabergeführten neurologischen Praxis in der Münchner Innenstadt. Wir sind drei Gesellschafter und insgesamt arbeiten acht Ärzte in unserer Praxis. Viele der Ärzte haben ihren Schwerpunkt seit Jahren auf Multiple Sklerose gesetzt. Wir bieten eine ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) und sind Teil des Neurotransdata Verbundes. In diesem Zusammenhang setzen wir uns für eine verbesserte Versorgung ein. Ich selbst bin im Netzwerk als ärztlicher Beirat tätig.
Kurz zu meinem Privatleben. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder im Alter von elf bis 24 Jahre und wir haben einen Hund. Ich glaube der Hund ist das einzige Familienmitglied, dass mich mit Respekt behandelt. 😉

In meiner Freizeit interessiere ich mich für viele Dinge, besonders für Opern.

Persönliche Motivation für Beruf?

Ursprünglich hatte ich ein großes Interesse für Naturwissenschaften.
Dabei fand ich das Nervensystem am faszinierendsten.
Meine eigene Praxis ermöglicht mir einen gewissen Gestaltungsfreiraum. Meine Entscheidungen basieren auf dem Austausch mit Patienten auf Augenhöhe.

Grundlagenwissen zur primär progredienten Multiplen Sklerose (PPMS)

Was sind die typischen Symptome und Merkmale von PPMS im Vergleich zu anderen Formen von Multipler Sklerose?

Das wird in den McDonald Kriterien von 2017 wie folgt definiert: Wenn die progrediente, sprich fortschreitende Symptomatik über mindestens ein Jahr anhält und MS-spezifische zerebrale (Gehirn) oder spinale (Rückenmark) MRT-Auffälligkeiten und/oder MS-spezifische Liquorveränderungen (Nervenwasser) vorliegen und es keine plausiblere andere Diagnose gibt.

Wie viele PatientInnen erhalten die Diagnose PPMS und wie sieht der natürliche Verlauf der PPMS aus, wenn man nichts dagegen unternimmt?

Weltweit sind circa zehn bis 15 Prozent der PatientInnen betroffen, was sich zu 20.000 – 30.000 Neudiagnosen im Jahr aufsummiert.

Das Verhältnis von Männern zu Frauen liegt bei eins zu eins. Professor Stefan Braune hat dazu gerade publiziert, dass im gesamten Neurotransdata Netzwerk (NTD)  480 PPMS Patienten behandelt werden. Das entspricht fünf Prozent aller im NTD behandelten MS-PatientInnen.

Das häufigste Symptom ist die langsam progrediente Gangstörung, selten treten schubartige Verschlechterungen auf. Der Verlauf variiert, wie generell bei der MS, stark, bis zu dem Punkt, wo das Hilfsmittel Rollstuhl zum Einsatz kommt.

Die Auswertung der NTD-Daten zeigte, dass die Symptome anfänglich oft unspezifisch sind und bis zu 10 Jahre zwischen dem Beginn der Erkrankung und der Diagnose liegen können. Ein Teil der PatientInnen circa 15 Prozent wird zunächst als schubförmige MS diagnostiziert.

Gibt es bestimmte Faktoren, die den Verlauf von PPMS beeinflussen können, wie etwa das Alter bei Diagnose, Lebensstilfaktoren oder genetische Aspekte?

Grundsätzlich haben PPMS-Patienten im Durchschnitt ein höheres Alter bei Auftreten der MS von circa 40 Jahren. Das ist zehn Jahre später, als RRMS-Patienten.

Die Genetik scheint eine große Rolle zu spielen. Spezielle Genveränderungen erhöhen das Erkrankungsrisiko und vor allem die Erkrankungsschwere.

Im Rahmen der Epigenetik, also den Umweltfaktoren, die Einfluss auf die Gene haben spielen das Epstein-Barr-Virus (EBV) und Rauchen eine große Rolle, aber auch Übergewicht, Vitamin D Mangel und ein zu hoher Konsum von Kochsalz können zum Ausbruch beitragen.

Da aktuell nur nur für einen Teil der PatientInnen medikamentöse Optionen zur Verfügung stehen, ist der eigene aktive Umgang mit der Erkrankung besonders wichtig. Dazu gehört eine aktive Lebensführung und das minimieren von Risikofaktoren. Allerdings muss ich einschränkend sagen, dass die Einflussfaktoren auf die PPMS weniger untersucht sind als für den schubförmigen Verlauf der Erkrankung.

Was sind die größten Herausforderungen im Leben mit PPMS mit fortschreitender Erkrankungsdauer?

  • Gangstörungen
  • Verfügbarkeit und Zugang zu Hilfsmitteln
  • Motorikeinschränkungen der Oberen Extremitäten
  • Spastiken
  • Schmerzen
  • Störungen der Blasen- und Darmkontrolle
  • Depressionen
  • Fatigue
  • kognitive Beeinträchtigungen

Und das führt in Summe meist zu einer reduzierten Lebensqualität.

Behandlung und Intervention bei PPMS

Welche Möglichkeiten gibt es derzeit zur Behandlung von PPMS, und wie unterscheiden sie sich von der Behandlung anderer MS-Formen?

Generell finden bei Multipler Sklerose zwei Krankheitsprozesse statt. Das ist einerseits die relativ klar begrenzte Entzündung, die sich durch Schübe und deutlich sichtbare Läsionen im MRT zeigt und die eher diffus ablaufende Neurodegeneration. Aktuell kann vor allem die räumliche begrenzte Entzündungsaktivität gut mit Medikamenten behandelt werden, wie sie im schubförmigen Verlauf dominant ist. Die diffuse Neurodegeneration, die bei progredienten Verläufen (PPMS und SPMS) überwiegt , also der Untergang von Nervenzellen (graue Substanz) ist bisher kaum behandelbar. Und die vorhandenen Medikamenten für den schubförmigen Verlaufen helfen kaum.

Mit B-Zelltherapien, wie Ocrelizumab und Rituximab, können wir vor allem fokale Aspekte der PPMS therapieren, also wenn räumlich begrenzte Entzündungsaktivität vorhanden ist.

Dies gilt vor allem für jüngere Patienten unter 45-50 Jahren mit einer kurzen Krankheitsdauer, einem geringen Behinderungsgrad und bei Nachweis der beschriebenen, entzündlichen Aktivität im MRT.

Man kann auch mal versuchen PatientInnen über 50 Jahre für zwei Jahre behandeln. Allerdings muss man dann besonders gut auf mögliche Therapienebenwirkungen achten, da diese mit zunehmenden Alter häufiger auftreten. 
Für wiederholten Kortisonstöße, wie sie früher oft angewendet wurden, gibt es keine wissenschaftliche Evidenz.

Welche Fortschritte wurden in den letzten Jahren bei der Entwicklung von Therapien für PPMS erzielt?

Früher hat man regelmäßig Kortisonstöße gegeben. Seit 2018 wurde Ocrelizumab zugelassen, die Einschränkungen in der Behandlung habe ich gerade erwähnt.
Es ist wichtig, dass wir die Krankheitsprozesse besser verstehen, um daraus neue Therapieansätze zu entwickeln.

Wie wichtig ist eine frühzeitige Intervention bei PPMS, um den Krankheitsverlauf zu beeinflussen?

Ocrelizumab wirkt bei Patienten unter 45 Jahren mit einem niedrigen EDSS besser als im später Verlauf. Bei PatientInnen über 50 Jahre gibt es für diese Therapieform kaum Wirksamkeitsnachweise.

Wie sehen die Forschungsergebnisse zur autologen Stammzelltherapie aus, wenn sie im frühen Verlauf durchgeführt wird?

In Deutschland ist die autologe Stammzelltherapie (aHSCT) bei MS bisher nicht zugelassen. Grundsätzlich erscheint der „Neustart“ des Immunsystems sehr attraktiv.

Die aHSCT adressiert die lymphozytären Aspekte und ist vor allem für hochaktive schubförmige Verläufe interessant. Allerdings gibt es keine Vergleichsdaten mit den hochwirksamen Medikamenten.
Es gibt Hinweise, dass auch progrediente PatientInnen profitieren können, sofern eine deutliche entzündliche Aktivität vorliegt, also bei einer frühen SPMS (sekundär progredienten MS, siehe Burt 2022). PPMS-Patienten scheinen leider nicht wirklich geeignete KandidatInnen zu sein.

Wie wichtig ist es den Verlauf der PPMS zu messen, um festzustellen, was bei individuellen Betroffenen funktioniert und welche Gruppeneffekte sich zeigen? Welche Untersuchungen und Patientendaten sind dabei besonders wichtig?

Auf individueller Ebene kann man die Einschränkungen aber auch Potentiale besser beurteilen.
Neben medikamentösen Therapieansätzen spielen besonders die Krankengymnastik, die Ergotherapie, das Kognitionstraining, viel Bewegung und Sport und eine gesunde Ernährung eine große Rolle.
Für die Diagnostik werden folgende Untersuchungen genutzt:

  • EDSS = Expanded Disability Status Scale
  • T25FW = The timed 25-foot walk (Beurteilung Gehfähigkeit)
  • 9HPT = 9-Hole Peg Test (Beurteilung der Feinmotorik)
  • SDMT = Zahlen-Symbol-Test (Beurteilung kognitive Fähigkeiten)
  • FSMC = Fatigue Scale for Motor and Cognitive Functions (Beurteilung der Auswirkung der Fatigue auf motorische und geistige Fähigkeiten)
  • PRO = Patient Reported Outcomes (vom Patienten berichtete Gesundheitsergebnisse)

Auch sozialmedizinische Aspekte spielen eine große Rolle bei der Begleitung von PPMS-PatientInnen, wie die Anpassung des Arbeitsplatzes, Gleichstellung und Beurteilung des Grades der Schwerbehinderung.
Die Gruppeneffekte hat Stefan Braune in seiner wissenschaftlichen Arbeit gut ausgewertet. 

Fragen zur Lebensqualität und Patientenunterstützung

Wie können Menschen, die mit PPMS leben, ihre Lebensqualität verbessern und den Alltag besser bewältigen?

Indem sie Angebote für Rehabilitationsmaßnahmen nutzen, sich selber empowern und einen aktiven Umgang mit der Erkrankung anstreben.

Jede und jeder sollte versuchen, die Spielräume der Einflussnahme auf den Verlauf maximal zu nutzen, aber auch die Grenzen wahrnehmen und das „neue Normal“  akzeptieren und damit umgehen lernen. Nutzen sie die vorhandenen Hilfsmittel, lassen sie ihren Arbeitsplatz anpassen und achten sie auf einen angemessenen Schwerbehindertenstatus, der zumindest einen Beitrag dazu liefern kann, durch die MS entstandene Nachteile etwas auszugleichen.

Welche Rolle spielen Rehabilitationsprogramme und Physiotherapie bei der Unterstützung von PPMS-Patienten?

Sie sind sehr wichtig angesichts limitierter medikamentöser Optionen.

Welche Ratschläge würden Sie PPMS-Patienten und ihren Familien geben, um die Krankheitsbewältigung zu erleichtern?

Alle direkt und indirekt Betroffenen sollten versuchen die Diagnose zu akzeptieren inklusive dem speziellen Krankheitskonzept der primär progredienten Multiplen Sklerose (PPMS).

Es ist enorm wichtig aktiv zu bleiben und seine Ressourcen zu pflegen.

Bauen sie sich ein gutes Netzwerk auf, mit einer/m guten NeurologIn, guten TherapeutInnen und einer guten Rehaklinik. Und bleiben sie informiert, zum Beispiel mit einem guten Podcast. Die Forschung schreitet kontinuierlich voran und als gut informierte PatientIn können sie womöglich eher von neuen Erkenntnissen profitieren.

Gibt es Unterstützungsgruppen oder Ressourcen, die PPMS-Patienten in Anspruch nehmen können, um Unterstützung und Informationen zu erhalten?

Nutzen sie die Angebote der DMSG, der AMSEL, bei Social Media, von Blogs, und Podcasts.

Bei Foren sollten sie vorsichtig sein, da die spektakulärste Story, die meiste Aufmerksamkeit erhält und womöglich komplett unwahr ist.

Zukünftige Entwicklungen und Forschungsrichtungen

Welche vielversprechenden Entwicklungen oder Forschungsrichtungen sehen Sie in Bezug auf die Behandlung und das Verständnis von PPMS in der Zukunft?

Die Krankheitsprozesse gerade auch der Neurodegeneration werden immer besser verstanden. Damit eröffnen sich auch Möglichkeiten der Einflussnahme.

Neue Therapieoptionen stehen direkt vor der Türe, die theoretisch das Potential haben, auch die PPMS noch effektiver zu adressieren. Wir müssen allerdings erst noch die Studienergebnisse abwarten.

Blitzlicht-Runde

Vervollständigen sie den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose…“

…eine Erfolgsgeschichte der Neurologie.

Ich bin seit 30 Jahren Neurologe. Das Verständnis und die Therapieoptionen haben sich dramatisch verändert. Und ich hoffe, dass wir auch PMS-Patienten künftig noch bessere Optionen anbieten können.

Welchen Durchbruch in der Forschung und/oder Behandlung der der PPMS wünschen sie sich in den kommenden 5 Jahren?

Genau das: progrediente MS besser behandeln zu können.

Und das die Digitalisierung mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der Unterstützung eine größere Bedeutung einnimmt. 

Welche Internet-Seite können sie zum Thema MS empfehlen?

Verabschiedung

Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Ich sehe, welchen Unterschied es macht, ob sich PatientInnen mit ihrer Erkrankung beschäftigen oder nicht. Das unterstützt eine realistische Einschätzung, reduziert Angst und schafft Perspektiven.

Wo findet man sie und ihre wissenschaftlichen Arbeiten im Internet?

Vielen Dank an Dr. Thomas Knoll für die Ausführungen zur PMS und den wiederholten Hinweis, wie wichtig ein bewusster Umgang mit der Erkrankung ist, um trotz progredienter MS den Alltag aktiv mitzugestalten.

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele

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