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#197 – Multiple Sklerose im Roman. Interview mit Madita Tietgen zu Himbeerfieber

Madita Tietgen hat in ihrem Roman „Himbeerfieber“ die eigene MS-Diagnose im Alter von 17 Jahren und die damit einhergehenden Ängste und Sorgen verarbeitet. Denn eine ungenaue Zukunft zu haben, ist ein gehöriger Ballast, erst recht in so jungen Jahren.

Später wurde die Diagnose revidiert, was erneut zu Gefühlschaos führte. Bei ihrem Protagonisten wurde die Diagnose allerdings korrekt gestellt und es geht viel mehr darum, was das für einen Menschen bedeutet.

Wir sprechen über Maditas eigene Erfahrungen und was ihr Anliegen ist, die Erkrankung zu einem wesentlichen Aspekt in ihrer Geschichte zu machen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorstellung Madita Tietgen

Ich wurde 1995 in München geboren und bin dort als Jüngste von sechs Geschwistern aufgewachsen. Seit Dezember 2020 bin ich verheiratet und unser Sohn ist mittlerweile knapp zwei Jahre alt. Nach dem Abitur habe ich studiert und einen Bachelor in Kulturjournalistik erworben. Anschließend arbeitete ich als Redakteurin in einer Kommunikationsagentur. Jetzt bin ich Vollzeitautorin.

Madita Tietgen trägt einen Blumenkranz im blonden Haar und ist vor einer Bergkulisse im Hintergrund zu sehen. Sie lächelt den Betrachter freundlich an.

Diagnose

Wann erhieltest du die Diagnose MS und was war der Anlass dafür?

Im Sommer 2012 als ich vermeintlich meinen ersten Schub hatte, der sich durch Kribbelgefühle in Händen,  Armen und Gesicht bemerkbar machte. Zusätzlich litt ich unter starken Kopfschmerzen, Sehstörungen sowie Empfindungsstörungen.

Wurde bei den Untersuchungen zu Beginn eine Lumbalpunktion durchgeführt?

Ja, mit unauffälligen Ergebnissen.

Wie hast du die Diagnose aufgefasst und wie war es für deine Liebsten?

Im ersten Moment habe ich es gar nicht richtig realisiert, zwei Tage danach bin ich mental zusammengebrochen, weil ich nicht weiterwusste. Insbesondere was die Diagnose jetzt eigentlich für meine Zukunftspläne bedeutet, schließlich war ich erst siebzehn, ein Jahr vor dem Schulabschluss. Ziemlich bald darauf bin ich in eine Jetzt-erst-recht-Haltung gerutscht und dachte mir, jetzt darf ich nicht aufgeben, sonst komme ich nie wieder hoch, um weiterzumachen. Also habe ich einfach weitergemacht und versucht meine Einschränkungen zu ignorieren bzw. in mein Leben zu integrieren.

Meine Familie war ziemlich überrascht, mit so etwas hat einfach niemand gerechnet. Jeder hat es anders aufgenommen. Manche haben es einfach versucht zu akzeptieren, andere wollten auf Teufel komm raus irgendetwas tun, aber das war ja kaum möglich. Es war besonders am Anfang schon ziemlich schwierig für alle.

Wurden dir zu Beginn verlaufsmodifizierende Therapien empfohlen und wie hast du dich entschieden?

Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht mehr an alles ganz genau erinnern. Ich war in den ersten Wochen einfach wie in einem Nebel. Ich habe mich sehr auf die Ärzte und ihre Empfehlungen verlassen. Da ich ja noch sehr jung war, wollte man den Verlauf bestmöglich verzögern, weshalb man mir schließlich eine immunmodulatorische Therapie speziell mit dem Verabreichungssystem RebiSmart empfohlen hat (3x / Woche Interferon beta-1a).

Wie hast du nach der Diagnose deinen Lebensstil angepasst?

Ich habe ehrlichweise kaum etwas geändert – mit Sicherheit ein Fehler. Ich habe einfach weiter gemacht, wie bisher.

Welchen Einfluss hatte die Diagnose auf deine beruflichen und privaten Pläne?

Ich habe mich ganz und gar auf meine Schule konzentriert, damit ich trotz allem mein Studium wie geplant im Herbst 2013 antreten konnte. Die Zusage dafür bekam ich bereits im August 2012, nur wenige Wochen nach der Erstdiagnose. Ich musste also nur noch mein Abitur bestehen. Im Nachhinein habe ich definitiv den Fehler gemacht, mir keine Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Ich wollte einfach mein Leben genauso weiterführen wie vor der Diagnose. Schwere Migräne und vermeintliche Schübe haben mir das zwar erschwert, aber ich wollte einfach nicht innehalten, weil ich Angst hatte, was das für mich wirklich bedeuten würde. Ich glaube, ich wollte besonders nach der Diagnose zeigen, dass ich beruflich alles erreichen kann – auch wenn ich krank bin.

Ein dreiviertel Jahr nach der Diagnose lernte ich meinen heutigen Mann kennen, war aber sehr unsicher – denn ich musste mit 17 Jahren den Menschen bereits sagen, welche Krankheit mich mein Leben lang begleiten wird. Ich hatte Angst, einen Jungen damit zu verprellen und war extrem überrascht, als dies bei ihm nicht der Fall war. Und er hat bis heute Wort gehalten.

Wann und weshalb wurde die Diagnose hinterfragt?

Mein ursprünglicher Neurologe wechselte an eine Privatklinik. Da ich Kassenpatientin war, konnte er mich fortan also nicht mehr behandeln. Daraufhin suchte ich mir einen neuen Neurologen, der dann erstmals die Diagnose anzweifelte. Es dauert dann aber noch einige Jahre bis die Diagnose vollständig vom Tisch war.

Wie war es für dich, nun doch „nur Migräne“ zu haben und hat es sich gebessert oder leidest du heute noch immer unter Phasen mit Migräne?

Es hätte mich eigentlich erleichtern sollen, aber ehrlicherweise war es am Anfang eher schwieriger. Vermutlich, weil es sich sehr lange hingezogen hat, bis wirklich klar war, dass ich keine MS habe. Das waren Jahre der Unsicherheit, die mich sehr geprägt haben. In den ersten Jahren nach der vermeintlichen MS-Diagnose habe ich über ein Jahr Dauermigräne gehabt, später wurde es etwas besser. Aber erst nach mehreren Jahren wurde es endlich besser. Heute habe ich höchstens ein oder zwei Mal im Jahr Migräne. Es ist sehr viel besser geworden.

Verarbeiten der Multiplen Sklerose im Roman „Himbeerfieber“

Warum hast du dich entschieden Multiple Sklerose im 5. Buch deiner Irland-Liebesromanreihe "Himbeerfieber" aufzunehmen?

Mich hat das Thema nie ganz losgelassen und es hat mein Leben einfach trotz allem nachhaltig beeinflusst. Mit meinen Büchern möchte ich außerdem mehr vermitteln als eine oberflächliche Liebesgeschichte. Und irgendwie hat es sich beim Schreiben verselbstständigt – sodass ich plötzlich an einem Punkt der Geschichte angelangt war, wo ich dachte: Das ist die Möglichkeit, um der Krankheit Aufmerksamkeit zu geben und Menschen, die vielleicht noch nie davon gehört haben, einen Einblick zu geben, was es bedeutet an MS zu leiden. Insbesondere was es mental mit dem Patienten, aber auch seinem Umfeld macht.

Wie viel deiner persönlichen Erfahrungen stecken im Roman "Himbeerfieber"?

Meine Romane sind definitiv immer reine Fiktion. Aber es ist ganz klar, dass viele meiner bisher gesammelten Erfahrungen in den Romanen auf gewisse Art und Weise verarbeitet werden. Das Schreiben ist für mich eine Form der Therapie, da ist es vermutlich unvermeidlich, dass ich meine eigenen Erfahrungen einfließen lasse. Aber ich denke schon, dass es bei „Himbeerfieber“ wesentlich mehr ist als in allen anderen Romanen.

Was hast du zur Multiplen Sklerose recherchiert oder warst du durch deine eigene Betroffenheit bereits ausreichend informiert?

Ich habe einiges aus meinen eigenen Erfahrungen genutzt, habe aber dennoch alles nochmal nachrecherchiert. Bei mir ist die Erkrankung bzw. die Erstdiagnose ja schon einige Jahre her und wie schon erwähnt, befand ich mich besonders anfangs wie in einem Nebel. Und da es ja auch richtig sein sollte, habe ich sicherheitshalber nochmals recherchiert – und auch dich an Bord geholt und um Unterstützung gebeten.

Was möchtest du damit erreichen, dass du die Krankheit prominent in Himbeerfieber aufgenommen hast?

Ich finde, es wäre viel gewonnen, wenn Menschen die Krankheit dadurch etwas besser verstehen. Aber ich glaube auch, dass mein Hauptanliegen weniger auf den medizinischen Fakten liegt, sondern insbesondere auf den psychischen Auswirkungen, die diese Diagnose mit sich bringt. Ich hoffe, dass meine Leser:innen ein Gefühl dafür bekommen, was das für einen Menschen bedeutet, welche Fragen er sich stellt, welche Zweifel ihn überkommen und warum er anfangs die Diagnose vielleicht sogar verdrängt und nicht bereit ist eine Behandlung zu beginnen. Und allen voran erhoffe ich mir, dass meine Leser:innen danach ein bisschen aufmerksamer auf ihre Mitmenschen achten. Nur weil wir Lächeln und Tanzen, bedeutet es nicht, dass alles fantastisch ist. Was mir aber auch wichtig ist, ist der Fakt, dass man mit MS ein gutes Leben leben und seine Träume verfolgen kann. Heute ist so viel möglich.

Wieso spielen alle deine Romane in Irland und was findet man in den Bänden 1 bis 4, wenn man Himbeerfieber gern gelesen hat?

Ich habe während des Studiums ein Auslandssemester in Dublin gemacht und ich hatte dort eine wundervolle Zeit – und dieses Gefühl versuche ich mit meinen Romanen durch das Setting weiterzugeben. Die Romane sind zwar eine Reihe, aber alle unabhängig voneinander lesbar, aber es ist wie eine eigene Welt, in der man immer wieder auf bekannte Charaktere trifft und ihre Weiterentwicklung aus der Randperspektive betrachtet.

Meine Protagonisten müssen sich ihren eigenen Ängsten und teilweise schweren Schicksalen stellen, machen das aber auf eine selbstkritische und gleichzeitig humorvolle Weise. Mit meinen Romanen sorge ich einerseits für Wohlfühlatmosphäre und gleichzeitig stoßen sie zum Nachdenken an. Ich entlasse die Leser:innen immer mit einer Message am Ende ins Happy End.

Wünsche und Ziele

Hast du einen großen unerfüllten Wunsch?

Dass ich jetzt anfange vom Schreiben zu leben, ist eigentlich schon ein sehr großer Wunsch, der sich gerade erfüllt. Was ich mir ehrlich wünsche, ist, dass ich später im Alter zurückblicken kann und sagen kann, ich war meinem Sohn ein gutes Vorbild, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, auf sich zu achten und immer dafür zu kämpfen, dass er ein glückliches Leben führt – auch wenn das bedeutet, Wege zu gehen, die nicht dem Standard entsprechen.

Welche Entwicklung wünschst du dir im Bereich der MS in den kommenden 5 Jahren?

Ich würde mir wünschen, dass sich einerseits natürlich viel in der Forschung tut, um ein Leben mit MS leichter und länger zu machen. Aber ich würde mir auch wünschen, dass wirklich jeder, der es braucht, sowohl für sich als auch seine Angehörigen ein sehr niedrigschwelliges Angebot an psychotherapeutischer Begleitung gibt. Es gibt bereits einiges, aber ich würde mir wünschen, dass man es den Menschen so leicht wie nur möglich macht.

Blitzlicht-Runde

Was war der beste Ratschlag, den du jemals erhalten hast?

Alles hat seinen Grund. Es kommt drauf an, was du daraus machst.

Wie lautet dein aktuelles Lebensmotto?

Ich halte mich an Astrid Lindgren: „Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen.“

Mit welcher Person würdest du gern einmal ein Kamingespräch führen und zu welchem Thema?

Tatsächlich mit Astrid Lindgren, über die Art, wie sie ihr Leben in die Hand genommen hat und sich trotz aller Schicksalsschläge immerzu das innere Kind bewahrt hat.

Vervollständige den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose... “

…der Anstoß gewesen, mehr auf mich selbst zu achten – auch wenn ich das erst sehr viel später richtig hinbekommen habe.

Welche Internet-Seite kannst du zum Thema MS empfehlen?

Multiple Sklerose Gesellschaft Wien: https://www.msges.at/

Welches Buch oder Hörbuch, dass du kürzlich gelesen hast, kannst du uns empfehlen und worum geht es darin?

Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig. Eine junge Frau, die viele Entscheidungen in ihrem Leben bereut, versucht Selbstmord zu begehen und landet in einer Zwischenwelt, einer Bibliothek. Dort kann sie in die unterschiedlichsten Bücher hineinschlüpfen – jedes davon ist ein Leben von ihr, das sie geführt hätte, wenn sie sich in einem bestimmten Moment ihres Lebens anders entschieden hätte. Sie kann all diese Leben so lange ausprobieren, wie sie will. Und solange sie dort glücklich ist, bleibt sie in diesem Leben. Wenn sie das nicht mehr ist, kehrt sie automatisch in die Bibliothek zurück.

Das Buch zeigt auf wundervolle Weise, dass jede Entscheidung, die wir im Leben treffen einen Grund hat und wir nichts bedauern sollten, sondern vielmehr das Positive daraus ziehen und dies auf kommende Entscheidungen übertragen.

Abschluss

Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Ganz gleich, welche Herausforderungen uns auferlegt werden, es hat alles seinen Grund und so mies es sich am Anfang auch anfühlt – ich glaube ganz fest, dass man aus allem gestärkt hervorgehen kann. Der wichtigste Schritt ist, um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Man muss das Leben nicht allein bestreiten.

Wo findet man dich und deine Bücher im Internet?

Vor allem auf Instagram (@maditatietgen) und auf meiner Website (maditatietgen.com); meine Bücher inklusive Himbeerfieber gibt es überall, wo man Bücher kaufen kann.

Vielen Dank an Madita, dass sie Multiple Sklerose durch ihren Roman Himbeerfieber auch in der breiten Gesellschaft präsenter macht und weiterhin viel Erfolg im Autorenleben.

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele

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