Heute begrüße ich Matthias Weiß zu Gast im Interview, der bereits 1992 die Diagnose MS erhielt und somit eine Menge Erfahrungen mit der MS und Behandlungsmöglichkeiten gesammelt hat.
Außerdem schreibt Matthias seit seinem zwölften Lebensjahr und nutzt das intuitive Schreiben, um vor allem intensive emotionale Ereignisse oder Zeiten besser zu verarbeiten.
Beruflich ist er als Sozialarbeiter in der neurologischen Praxis von Dr. med. Melanie Leufgen in Wülfrath tätig, wo er Menschen mit MS und deren Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung hilft.
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Inhaltsverzeichnis
Vorstellung Matthias Weiß
Matthias Weiß ist Vater von drei Kindern, hat Sozialarbeit studiert und eine Zeitlang als Streetworker gearbeitet. Er schreibt seit er zwölf ist Gedichte, Geschichten und nutzt das intuitive Schreiben. Seit kurzem ist er zudem Hundepapa.
Diagnose und aktueller Status
Wann erhieltest du die Diagnose MS und was war der Anlass dafür?
Die Diagnose erhielt ich 1992. Da hatte ich bereits seit ½ Jahren Sensibilitätsstörungen auf der linken Seite, ausgenommen Kopf und Fuß. Die Empfehlung meiner Exfreundin, die in meinem Roman als Yahja auftaucht, lautete, geh zum Arzt, was ich tat.
Hattest du bereits vorher Symptome, die du rückblickend mit der MS zu tun hatten?
Vorher gab es schon eine Optikus Neuritis im Alter von 14 Jahren, die ich als Symptom meiner MS betrachte.
Wie hast du die Diagnose aufgefasst und wie war es für deine Liebsten?
Ich hatte vorher noch nie etwas von MS gehört und konnte mir über Literatur und andere Wege Wissen aneignen. Ich hatte keine große Angst, weil mir die Symptome erträglich erschienen.
Meine Eltern waren eher geschockt und befanden sich vor allem in einer Sorgenhaltung, da ich 1989 bei einer Not-OP fast verstorben wäre. Meine MS war für mich da eher ‚nur‘ ein weiterer Stein in meiner inneren Mauer.
Wurden dir zu Beginn verlaufsmodifizierende Therapien empfohlen und wie hast du dich entschieden?
1992 gab es fast keine Therapieform. Ich erhielt eine Zeitlang (ca. 1 ½ Jahre) wöchentlich 500 mg Kortison als Tablette, allerdings ohne Effekt. Die erste Kortison-Stoßtherapie hatte ich 1994. Ich hatte immer 2 Schübe im Jahr. Seit 1998 nahm ich Avonex bis Nov. 2001, ohne Besserung, danach kurz Rebif mit demselben Nichteffekt.
Hast du bereits einen Therapiewechsel hinter dir und wenn ja, was war der Anlass dafür?
Nach den Interferonen hatte ich nichts mehr genommen, nur diverse Stoßtherapien (bis heute 10). 2007 hatte ich meinen heftigsten Schub mit einer Spastik der rechten Seite. Ich konnte meine Hand nicht nutzen, nicht Schreiben, nicht gut Essen – die größte Angst vor meiner MS (sehr konkret) zu diesem Zeitpunkt.
Kurz nach der (wirksamen! Stoßtherapie habe ich mit dem damals neuen Tysabri begonnen. Dies nutzte ich, trotz all der Risiken, mit einer 100% Wirkung und keinen Nebenwirkungen bis 2022. In diesem 15 Jahren hatte ich keinen Schub mehr! Dann nahm ich kurz Aubagio, was ich wegen den starken Nebenwirkungen absetzt.
Seit 3 Monaten nehme ich jetzt Kesimpta und habe bisher keine erwähnenswerten Nebenwirkungen. Ich warte die nächsten 2 Jahre ab, was dann passiert.
Nutzt du symptomatische Therapieangebote? Wenn ja, welche?
Bisher keine – letzten Montag bin ich zum ersten Mal mit Physiotherapie in Kontakt gekommen.
Wie hast du nach der Diagnose deinen Lebensstil angepasst?
Wie erwähnt hatte ich schon 1989 ein einschneidendes Erlebnis und wurde von da an schon wesentlich Lebensbewusster und Achtsamer. Zeit verlor an Bedrohlichkeit und ich entwickelte meine eigene spirituelle Wahrnehmung. Meine MS wurde daher für mich auch nicht als existenziell bedrohlich wahrgenommen, vor allem deshalb nicht, weil ich eher milde Symptome hatte, abgesehen von der Spastik im linken Bein 1995 und der erwähnten Spastik in der rechten Hand 2007. Ich hatte zwar viele Schübe, aber die waren für mich körperlich händelbar.
Als Beispiel kann dafür folgendes stehen: Ich habe viele Jahre als Sozialarbeiter Jugendarbeit gemacht, war lange Zeit auch Streetworker. Ich habe dann die üblichen Regelschilder in meinen Jugendhäusern entfernt und durch ein folgendes ersetzt: AufmeRksamtkeit, AntEilnahme, WertSchätzung, AkzePtanz, FriEdlichkeit, RücKsicht, AchTsamkeit – RESPEKT.
Wie blickst du auf Deine Zukunft und haben sich deine beruflichen und privaten Pläne verändert?
Ich bin ein sehr optimistischer Mann geworden, nachdem ich mit viel Kampf meine innere Mauer eingerissen habe. Zu diesem Prozess gehört auch mein Buch. Daher sehe ich positiv in die Zukunft und gehe davon aus, dass mir Kesimpta helfen wird. Ich wusste vom Tag der Diagnose schon: Ich werde an meiner MS nicht sterben!
Zum Autorenleben und dem Roman „Roter Embryo“
Seit wann schreibst du und in welchen Situationen?
Ich schreibe seit meinem 12.ten Lebensjahr und nutze intuitives Schreiben – Befreiung im Wort. Ich denke nicht während ich schreibe, sondern beobachte die entstehenden Worte, Sätze, Phrasen und Lieblichkeiten. Mein Schreiben befreit mich von emotionaler Anspannung, von unaushaltbaren Gefühlen, wie Wut, Trauer, Verliebtsein, großer Freude, Angst, etc.
Ich schreibe freie Gedichte, manchmal Kurzgeschichten. Nachdem ich den Stift zur Seite lege steht immer etwas poetisch sinnvolles auf dem Blatt. Ich schreibe im Jahr ca. 70 – 400 Gedichte.
Wie entstand die Idee zum Roman „Roter Embryo“?
Die Idee ein Buch zu schreiben, hatte ich schon viele Jahre im Kopf, aber letztendlich waren es vertraute Menschen, denen ich Gedichte von mir vortrug und die mich dazu ermunterten das Buch zu beginnen.
Insgesamt brauchte es 15 Jahre bis zur Vollendung. Die Grundgeschichte hatte ich schon lange im Kopf und über die Jahren kamen immer neue Impulse und Ideen dazu. Ich schrieb anfangs ca. 2 Jahre lang, dann immer wieder mit Unterbrechungen, durch meine Kinder, die geboren wurden. Der Name „Roter Embryo“ stammt aus einem Gedicht, dass ich schon vor der Bucharbeit geschrieben hatte. Es ist auch im Buch selbst zu finden.
Kannst du die Geschichte, die Hauptfiguren und die Welt, in der sie spielt, kurz vorstellen?
Die Hauptfigur ist Jonath, der 20 Jahre alt ist. Der Name bildet sich aus ‚Jones‘, Ms. Jones ist ein eigen komponiertes Lied über meine MS, und Matthias. Er verliebt sich unsterblich in Yahja und leidet unter einer lebensbedrohlichen Epilepsie. Ich nutze diese Erkrankung, weil ich sie dramatischer darstellen konnte als meine eignen MS. Diese Form der Epilepsie nannte ich M’elpitlum S’esorelks – M’multiple S’sklerose, ab Seite 115.
Während seiner epileptischen Anfälle wechselt er in eine fantastische Welt, namens Gyes. Diese Welt ist von XOR bedroht, der bösen Macht und wird insbesondere von Zadev, dem Konterfei von Jonath, symbolisiert. In Gyes gibt es die Gruppe der Revs, die Jonath aus der Realen Welt brauchen um ein Yud zu bilden, die Macht, die XOR bezwingen kann.
Jonath weiß um seine Aufgabe in Gyes, aber auch darum, dass er bei jedem Anfall sterben könnte.
Zitat vom Buchcover: ‚Unerwartet eröffnet sich Jonath eine völlig neue Welt, die schon immer in ihm geschlummert hat. Währenddessen gerät sein Diesseits zunehmenden aus den Fugen…‘
Für wen ist das Buch geeignet? Was finden LeserInnen in dem Buch und inwieweit spielen dein Leben und die Gefühlswelt rund um die Multiple Sklerose darin eine Rolle?
Ich kann das Buch nicht empfehlen für Menschen unter 14 Jahren. Es ist eine Genremischung von Liebesgeschichte, Horror, Erotik, Fantasy und Krankheit. Ein emotional tiefes Buch, dass wahrscheinlich erst nach dem zweiten oder dritten Lesen seine Bedeutung entfalten kann. Es ist (natürlich) sehr autobiographisch und ein weiterer Teil meiner Krankheitsverarbeitung. Ich bin Jonath und Zadev und XOR und das Yud und alles zusammen. Manchmal beschreibe ich sehr grauenvoll, voller Ekel und Scham und manchmal zutiefst durch Liebe erfüllt. Wer sich darauf einlässt wird lachen und weinen, Ekel empfinden und Wut, Harmonie und Hoffnung – vor allem Hoffnung.
Planst du weitere Bücher zu veröffentlichen?
Irgendwann, längst nachdem mein Erstling fertig gestellt war fiel mir auf, dass „Roter Embryo“ nur der erste Teil einer Trilogie ist. Das zweite Buch heißt „Schwarze Erde“ und ich arbeite schon seit einigen Monaten daran. Aktuell sind 150 Seiten von ca. 350 fertig. Ich hoffe, ich kann es Mitte 2024 veröffentlichen. Der dritte Teil heißt „Goldenes Wasser“ und hier gibt es bisher nur verschwommene Strukturen. Mein Leben schreibt die Geschichten und dafür muss ich sie ja erstmal erleben…
Beratung Betroffener
Warum hast du dich für ein Studium der Sozialarbeit entschieden und wie setzt du dein Wissen und deine Kompetenzen heute ein? Bei welchen Themen kannst du Betroffene unterstützen und was gehört alles dazu?
Mein Weg zum Studium war langwierig. Nachdem ich die Realschule bestanden hatte begann ich mein Fachabi in Elektrotechnik. Ich hatte damals ein Interesse an Computern etc. Dann sah ich meine Schulklasse, 95% Männer, mit Sakko und Aktentaschen, während ich Second-Hand-Klamotten, lange Harre, einen Bundeswehr-Rucksack und einen Rollerhelm dabeihatte. Ich war szenisch eine Alternative und sah so anders aus. Ich wohnte in Coesfeld und besuchte in Ahaus die Fachschule. Diese teilte sich den Schulhof mit einer Schule für Sozialwesen – dort passte ich rein äußerlich besser hin.
Als mir während einer Klassenfahrt mein Deutschlehrer die Nikomachische Ethik von Aristoteles in die Hand drückte, mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob sie hier auf der richtigen Schule sind…“ fasste ich den Mut und sprach mit meinen Eltern…die schon darauf gewartet hatte, dass ich zu ihnen kam. Kurzum verließ ich nach Abschluss der 11.ten Klasse die Schule und begann mein Fachabi auf einer ortsnahen Schule für Sozialwesen zu machen – das entsprach meinem Sein wesentlich mehr!
Ich bin ein sehr authentischer und emotionaler Mann und bin jetzt in dieser Phase meines beruflichen Lebens genau dort angekommen, wo ich mich am wohlsten fühle. Zusammen mit meiner Frau Dr. Melanie Leufgen, die auch meine Neurologin ist, entwarfen wir das Konzept, das Neurologie und Sozialarbeit vereint.
Meine Aufgabe ist die psychosoziale Beratung und Gruppenarbeit mit Patienten und deren Angehörigen. Grade hier kann ich meine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen wunderbar mit MS-Patienten nutzen. So ist meine eigene MS ein sekundärer Gewinn in meiner Arbeit. Menschen mit MS fühlen sich viel besser verstanden und abgeholt, weil ich selbst betroffen bin. Als wäre es eine eigene Sprache.
Vor allem bei der Krankheitsbewältigung, emotionalen instabilen Phasen, Behördenkrams und alltäglich veränderten Dinge darf ich die Patienten begleiten. Aufgrund meiner kognitiven Symptomatik und Fatigue kann ich in einem Stellenumfang von 50% arbeiten.
Wobei hilfst du Menschen mit Multipler Sklerose besonders oft?
Besonders in Krisenzeiten, bei Hoffnungslosigkeit oder Depression begleite ich verlässlich, hoffnungsbereitend und aktivierend. Auf meinem Beratungstisch sind immer eine Kerze und eine Packung Taschentücher…!
Wünsche und Ziele
Hast du einen großen unerfüllten Wunsch?
Ich habe viele kleinere, aber der eine große ist es nicht. Ich lebe. Ich liebe. Ich bin.
Welche Entwicklung wünschst du dir im Bereich der MS in den kommenden 5 Jahren?
Zuerst, dass mich das Kesimpta trägt und zuletzt, dass die Forschung weiterhin neue Möglichkeiten entdeckt.
Blitzlicht-Runde
Was war der beste Ratschlag, den du jemals erhalten hast?
Mein Therapeut sagte irgendwann zu mir „In dir sind unendlich viele Räume“ – ich konnte denken ohne Grenzen und er gab mir die Erlaubnis.
Wie lautet dein aktuelles Lebensmotto?
Das Leben ist Jetzt!
Mit welcher Person würdest du gern einmal ein Kamingespräch führen und zu welchem Thema?
Mit meinem ehemaligen Deutschlehrer, zu dem Thema: Was ist die Bedingungslosigkeit in der Liebe?
Vervollständige den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose... “
„Für mich ist die Multiple Sklerose…“ – „…meine Aufforderung zu Leben!“
Welche Internet-Seite kannst du zum Thema MS empfehlen?
Die Homepage der DMSG.
Verlosung von Roter Embryo
Um an der Verlosung von Roter Embryo teilnehmen zu können, musst Du einen Kommentar schreiben, was Dich an dem Buch interessiert oder warum Du es gewinnen solltest.
Die Ziehung erfolgt am Montag, den 3. Juli 2023. Teilnehmen können alle, die hier auf dem Blog, bei Instagram oder Facebook rechtzeitig einen Kommentar schreiben. Das Buch wird per Post dem Gewinner zugeschickt. Falls die Adresse nicht innerhalb von drei Tagen bekannt gegeben wird, wird das Buch neu ausgelost. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Vielen Dank an Matthias für den Einblick in sein Leben und den deutlichen Hinweis im Hier und Jetzt zu leben.
Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele
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