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#210: Wie Sport die Multiple Sklerose beeinflussen kann. Interview mit Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer

Im heutigen Interview befrage ich Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Vorteile von Sport auf das Immunsystem bei Multipler Sklerose. Dabei geht es vor allem um die Effekte von regelmäßigem Ausdauersport, den Prof. Zimmer und sein Team untersuchen.

Kleiner Spoiler zu Beginn: Es lohnt sich sehr Sport in den Alltag einzubauen und möglichst mehrfach pro Woche so richtig ins Schwitzen zu kommen, um das Immunsystem in eine gesunde und ausgeglichenere Richtung zu lenken.

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Inhaltsverzeichnis

Vorstellung Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer

Nele Handwerker: Hallo Herr Prof Dr. Zimmer, ich freue mich riesig, dass Sie heute mein Gast sind und schick erstmal ein ganz liebes Hallo nach Dortmund. #00:00:06#

 

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Vielen Dank, dann stelle ich mich auch kurz vor. Mein Name ist Philip Zimmer, ich leite seit zweieinhalb Jahren, fast drei Jahren den Lehrstuhl für Sportmedizin. Leistung und Gesundheit heißt das genau an meiner technischen Universität hier. Das, was wir machen, ist, dass wir uns mit dem Einfluss von Sport auf das Immunsystem beschäftigen und das vor allem bei klinischen Populationen. Menschen mit MS und Menschen mit Tumorerkrankungen. So viel zu meiner Person. Ich bin 39 Jahre alt, verheiratet, habe drei Söhne und freue mich jetzt auf das Interview. #00:00:43#

Persönliche Motivation für den Beruf

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Beruf ist ein breites Wort. Ich habe angefangen als Sportwissenschaftler danach noch Neurowissenschaften studiert in beiden Fächern promoviert und für mich war recht früh klar, dass ich in die Forschung gehen möchte, naturwissenschaftlich angehaucht und das war eigentlich erstmal reines Interesse und den Kontakt mit klinischen Population, also vor allem mit Tumor Patienten und später  auch ein Mensch mit MS, bin ich eher immer zufällig reingeraten und das hat dann primär was mit meinem originären Interesse Immunologie zu tun gehabt. 

MS werden wir uns nachher auch noch genauer unterhalten, ist das jetzt endlich auch so bisschen die Brücke gewesen. Also der Einfluss von Sport auf das Immunsystem, das war der Hintergrund, dann hat der Entzündungsprozess eine große Rolle gespielt, das hat auch etwas mit vielen anderen Erkrankungen zu tun. Wie wir vielleicht nachher noch hören werden, ist natürlich bei der MS ein ganz zentrales Problem und durch meinen Hintergrund als Neurowissenschaftler kam dann irgendwann im Prinzip dieser Switch auf diese Erkrankungen und dann hat auch so ein bisschen der Zufall mit reingespielt.

Ich habe einen sehr lieben netten Kollegen, mittlerweile auch einen guten Freund aus der Schweiz, der im Kontext promoviert hat in einer Rehaklinik, mit dem ich seit vielen Jahren kooperiere mittlerweile. Das ist der Doktor Wannsee und der hat mir den Einstieg sehr leicht gemacht. #00:02:09#

Sportimmunologie – Überblick

Womit beschäftigt sich die Sportimmunologie?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Die Sportmedizin ist ein sehr breites Feld. Man kann sich mit Sport-Kardiologie beschäftigen, man kann ich mit orthopädischen Problemen beschäftigen, die im Sport auftreten können, das ist all das, was wir nicht machen, sondern wir sind eher molekularbiologisch unterwegs und es gibt da eine sehr eine große Community, die sich mit dem Einfluss von Sport auf Mechanismen beschäftigt. Also was passiert, zum Beispiel im Muskel, was passiert in den anderen Organsystemen. 

Das Thema was mich am meisten fasziniert und interessiert ist das Immunsystem und die Immunologie. Das ist auch für sich noch mal ein sehr großes Feld, genau wie das zentrale Nervensystem, auch ein sehr komplexes Organsystem. In genau diesen Zusammenhang gibt es natürlich ganz viele verschiedene Fragestellungen, die man irgendwie beantworten kann und ganz viele verschiedene Settings, in die man das auch reinsetzen kann. Das heißt, ich kann versuchen das Immunsystem zu nutzen, um zu gucken, wie ist jemand belastet.

Also ich kann im Leistungssport zum Beispiel eine Belastungssteuerung machen. Ist jemand im Übertraining, muss sich jemand auch erholen, also so ein Belastungs- und Regenerationsmanagement. Das interessiert mich auch ein bisschen, aber das ist nicht das, was mich primär interessiert, weil das ist, was ich am Sport viel interessanter finde, abgesehen davon, dass ich selber gerne Sport treibe ist im Prinzip, wie kann ich damit den Alltag von Menschen mit Erkrankungen verbessern.

Da ist man dann bei der Sportmedizin. Da habe ich, wie gesagt, diese beiden Krankheitsbilder, die Tumorerkrankung und MS, die ich ganz spannend finde und das Immunsystem bei beiden Erkrankungen unabhängig voneinander sehr große Rolle spielt, auch therapeutisch und da versuchen wir es eben anzusetzen. Das ist die Brücke zum Immunsystem und bei Krebserkrankung geht’s dann eher so ein bisschen mehr darum, können wir Immunzellen aktivieren, mobilisieren, die Tumorzellen erkennen und abtöten können. Können wir das Tumormikromilieu irgendwie verändern und bei der MS geht es primär darum letztendlich zu schauen, ob es bestimmte Immunzellen gibt, die im Kontext der Erkrankungen eine zentrale Rolle spielen, die wir manipulieren können und natürlich hoffentlich zum Guten. #00:04:29#

Welchen Einfluss hat Sport allgemein auf unser Immunsystem?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das ist eine große Frage und die lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Das Immunsystem ist sehr sehr sehr komplex und ich bin auch kein Freund davon immer so schwarz-weiß zu malen, ist das jetzt gut oder schlecht, sei mal dahingestellt. Weil das Immunsystem viel zu ausgefallen und so vielseitig ist und das hat auf der einen Seite, dass es sehr guttut und für den einen sehr tut, kann es für einen anderen vielleicht gar nicht so gut sein.

Deswegen muss man das ein bisschen differenzierter betrachten, glaube ich. Wenn man ein ganz grobes Verständnis entwickeln möchte, ist es wichtig, dass man zunächst mal zwei Dinge voneinander trennt. Das eine sind akute Belastung. Also, wenn ich jetzt rausgehe und eine Runde joggen gehe oder Walking machen oder Fahrradfahren oder auch Krafttraining mache einmalig und dann gucke ich mir diese akut Reaktion an, das ist dann das eine und das andere oder die andere große Fragestellung, das ist das was die meisten eigentlich eher damit assoziieren, was passiert, wenn ich  regelmäßig Sport treibe?

Also, wenn ich das Ganze vielleicht sogar mit dem gewissen Ziel mache, meine Leistungsfähigkeit zu verbessern, wo man von Training spricht, und das ist das, was die meisten interessiert, was macht Training eigentlich? Also, wenn ich mich regelmäßig bewege, diese wiederholenden Reize auf das Immunsystem, führt das zu irgendwelchen Anpassungen?

Das ist das Erste, was man voneinander trennen muss und trotzdem spielen diese akuten, einmaligen Belastung natürlich dann auch in chronische Anpassung mit rein und ich versuche das immer anhand von einem Beispiel klarzumachen, wo man das aus dem Sport besser kennt, wenn ich Krafttraining mache und meine Arme immer da Gewicht dran hänge und dieses Gewicht bewege. Vielleicht 30-mal, dann macht das akut, vielleicht ein bisschen Muskelkater und kann vielleicht ein bisschen für eine Ermüdung sorgen, wenn ich das aber regelmäßig mache, sorgt das dafür, dass sich das System anpasst. Dass der Muskel wächst, Hypertrophie, nennen wir das Ganze.

Ähnliche Prozesse passieren im Immunsystem eben auch, also wir haben akute Effekte, die vielleicht gar nicht immer so positiv besetzt sind, die aber chronisch dafür sorgen, also wenn wir es regelmäßig machen, im Trainings Kontext, dass das Immunsystem sich anpasst und gegebenenfalls gegenüber Stressoren resilienter wird, also Stressresistenter wird. Das ist für das ganz grobe Verständnis erstmal eine ganz gute Einleitung, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. #00:06:57#.

Können sie einfach verständlich die Bedeutung von natürlichen Killerzellen und regulatorischen T-Zellen für unser Immunsystem erklären?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Ja, also da ist auch die Frage, in welchem Kontext bespricht man das Ganze. Jetzt haben sie natürlich mit Killerzellen angefangen, das ist eine Immunzellpopulation mit denen wir uns sehr viel beschäftigt haben, das ist deswegen so eine interessante Zellpopulation für uns, weil sie sehr Belastung sensitive ist.

Das heißt, es gibt keine andere Immunzellpopulation außer die Neutrophilen vielleicht noch die so sensitiv auf Belastung reagieren, das heißt sie werden durch Sport mobilisiert und aktiviert. Vor allem durch akute Belastung, gar nicht chronisch. Aber, wenn ich immer wieder regelmäßig Sport treiben und dann diese Veränderungen in den Zellen indiziere, gibt eben auch Effekte. Die Bedeutung ist eigentlich vorwiegend im Zusammenhang mit Tumorerkrankungen und auch mit Viruserkrankung zu sehen, weil das sind Immunzellen, ich versuche es mal einfach zu sagen, als körpereigene Tumor-Polizei vorstellen kann.

Das heißt die Zellen streifen durch den Körper, sind unspezifische Immunzellen und die können letztendlich entartete Zellen und das sind eben meistens Virus infizierte Zellen oder Tumorzellen erkennen und abtöten. Das können nicht viele Zellen bei uns im Körper. Es gibt noch eine zweite Zellpopulation, die das kann. Die [unverständlich 00:08:26] und deswegen sind die eben auch für die Tumortherapie so interessant und wenn wir durch Sport diese Zellen mobilisieren aktivieren können, dann ist das natürlich eine ganz tolle Sache und das ist einer von mehreren Mechanismen, von denen wir glauben, dass sie dafür verantwortlich sind, dass Sport sich eben bei bestimmten Tumorerkrankung, was bei der Entstehung aber auch bei dem Progress von Tumorerkrankungen positiv ausfallen kann.

So viel zu den natürlichen Killerzellen und die zweite Population, die sie angesprochen haben, die regulatorischen T-Zellen, das sind eigentlich klassische antientzündliche Zellen, muss man sagen, die wirken eigentlich Immunsuppressiv. Man kann sich das so vorstellen, wenn man einen starken Entzündungsreiz hat, dann ist immer wichtig, dass das Immunsystem auch irgendwann wieder eingefangen wird, wieder runter gebremst wird. Mein ehemaliger Chef Professor Bloch hat es als Bremse des Immunsystems bezeichnet. Das ist dann häufig so ein bisschen negativ besetzt, das ist aber gerade im Zusammenhang mit der MS Erkrankung ganz wichtig, da wir Zellen haben, die eben das Immunsystem auch wieder einbremsen, antientzündlich wirken. 

Von daher sind diese Zellen gerade bei der MS von einer besonders hohen Relevanz und wir wissen nicht nur aus T-Modellen, dass diese Zellen leider Gottes bei Menschen nach unten reguliert sind, vor allem im Zentralnervensystem und damit im Prinzip diese chronisch inflammatorische Komponente überwiegen kann. Das Spannende ist, dass wir durch Sport diese regulatorischen T-Zellen wieder hochfahren können. Das wissen wir aus dem T-Modell. Es funktioniert auch im Zentralnervensystem, aber eben auch in der Peripherie. Das heißt, Sport wirkt antientzündlich, wenn wir es regelmäßig machen.

Eine akute Belastung macht eher das Gegenteil, wirkt eher entzündlich, aber ich habe ja gerade schon mal versucht so anzuteasern, das wenn wir regelmäßig überschwellige Entzündungsanreize setzen, dann sorgt das nachher dafür, dass der Körper mehr regulatorische T-Zellen produziert oder die Zellen zur Differenzierung anregt und damit wir diese Kapazität, diese antientzündliche Kapazität durch Sport hochreguliert. #00:10:19#

Effekte von Sport auf Multiple Sklerose

Welche MS-Symptome können positiv durch Sport beeinflusst werden?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das ist eine sehr gute Frage und das ist werden nachher auch klinisch relevante, also die meisten Betroffenen interessiert dann eher weniger, wenn ich erzähle, dass ich irgendwie eine Immunzelle links oder rechtsrum drehe. Wobei das auch für die Relevanz des Themas wichtig ist, nur um das vorwegzunehmen, weil ich glaube, dass wenn man versteht, dass man was messen kann oder da sich wirklich was im Körper, dann ist man noch eher dazu geneigt, wirklich sowas anzunehmen.

Ohne das böse zu meine, wir machen keine Homöopathie, sondern das funktioniert und wir können auch nachweisen, dass es funktioniert. So und jetzt haben wir gerade Symptome angesprochen. Es ist klar, dass Sport keine Wunderwaffe ist und dass man damit natürlich auch nicht alle Symptome irgendwie oder ein Symptome wie begegnen kann, aber es gibt eben eine ganze Reihe von Symptomen, wo wir mittlerweile evidenzbasierten sagen können, da hilft Sport oder da helfen gezielte Trainingsintervention, um es genauer zu sagen und das was mit Sicherheit das naheliegendste es ist, ist das sportlich auf die Motorik auswirkt oder auf die Sensomotorik.

Das heißt, wir können in jedem Fall die Kraft und die Ausdauerleistungsfähigkeit durch Sport treiben. Da hier nicht unerheblich vielen Menschen mit MS eingeschränkt sind und wenn ich irgendwie der Treppe noch hochkommen möchte, dann sind eben diese beiden Faktoren die hoch relevant sind. Für mich als Sportwissenschaftler ist natürlich banal, dass wenn ich Krafttraining mache, die Kraft steigern kann oder wenn ich Ausdauertraining mache, die Leistungsfähigkeit steigern kann. Aber das hat für die Menschen nachher einen Riesen-Impact und das darf man immer nicht vergessen, bevor man irgendwie auf Symptome geht, die man vielleicht eher nicht mit Sport assoziiert direkt.

Also, die klassischen motorischen Fähigkeiten letztendlich. Dann ist es so, dass ist eine sehr gute Evidenz für Fatigue Management gibt. Das heißt, es gibt keine Intervention, die so gut gegen Fatigue hilft, wie Sport. Das weiß man interessanterweise nicht nur für die MS, das weiß man auch für Tumorerkrankungen, auch da ist Sport, gezielte Trainingsintervention, also nicht einfach mal ein bisschen bewegen, sondern tatsächlich eine gezielte Empfehlung, die man nachher geben kann, da besonders gut helfen. Deswegen eher Training. 

Spannend ist, dass diese Empfehlungen für Tumorpatienten etwas anders aussehen als die Empfehlung für Menschen mit MS. Beide Populationen haben, sehr viel mit der Fatigue-Problematik zu kämpfen und bei der MS ist es so, dass zeigt eine aktuelle Metaanalyse, so eine Übersichtsarbeit ganz schön, das ist scheinbar so ist, das für ein Gleichgewichtstraining gegen diese Fatigue besonders gut hilft. Also, das ist eben nicht das klassische Ausdauertraining oder Krafttraining, das mit Sicherheit auch immer zuträglich ist und was ich auch immer empfehlen würde, aber gerade bei dieser Fatigue-Problematik scheint Balance Übungen, Gleichgewichtstraining besonders gut zu helfen.

Dann kann man weitermachen mit kognitiven Einschränkungen, da muss man sagen, da gibt immer wieder auch Nachrichten, Medienberichte dass Sport gut fürs zentrale Nervensystem ist, Sport sehr gut für die Denkfähigkeit sein oder für die kognitive Leistungsfähigkeit, um den Begriff ein bisschen größer zu machen vielleicht und da muss man sagen, da ist die Inzidenz verhältnismäßig dünnen. Also wir wissen zumindest, dass es nicht schädlich ist und wir wissen auch, dass wir bestimmte Hirnstrukturen durch Belastung, durch Training positiv beeinflussen können. Die Datenlage im Kontext MS ist noch recht dünn dazu. Es gibt einige Studien, die das untersucht haben. Manche mit null results, also mit keinen signifikanten Ergebnissen, andere mit positiven Befunden.

Aber die Datenlage und die Studienqualität ist so heterogen und auch schlecht, muss man sagen, dass einfach keine eindeutige Aussage zulässig wäre. Man kann sagen, es ist zumindest nicht so, dass es schädlich ist. Das kann man glaube ich schon ganz klar unterstreichen, aber wir sind noch ein Stück weg davon, auch mit der Qualität der Studie, sagen zu können, dass es einen eindeutig positiven Effekt hat. Wir haben selbst Untersuchungen gemacht, wo wir das festgestellt haben, aber das ist auch noch mal eine Frage der Studiendesigns und der Endpunkt der Studien und wie das Ganze untersucht wird und da ist die Qualität einfach noch so schlecht.

Aber ich glaube, das sind die wichtigsten drei Punkte, die ich jetzt genannt habe. Also die Motorik, also Kraftausdauer, Gleichgewicht vor allem, dann natürlich dieses Fatigue-Management und eben die Geschichte mit der Kognition, über die man verhältnismäßig viel weiß. Das ist glaube ich das Wichtigste. #00:15:18#

Nele Handwerker: Das ist auch noch ein interessanter Hinweis, um zu sagen, die Studien waren noch nicht so gut durchgeführt. Heißt ja nicht, dass wenn man die Studien ordentlich durchführt, dass da nicht auch ein positiver Effekt rauskommen könnte. #00:15:30#

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Genau, absolut. Vielleicht noch ein Nachtrag also, auf was ich natürlich jetzt überhaupt nicht eingegangen bin, gerade bei Syndrom sind eher psychosoziale Faktoren. Wir wissen auch, dass wir zum Beispiel depressive Episoden oder depressive Verstimmungen exzellent mit Sport entgegenwirken können oder mit Trainingsinterventionen. Das hat sich auch ein ganz wichtiger Faktor, es gibt eine Unzahl an Studien, die belegen, dass sich Sport positiv auf die Lebensqualität auswirkt, und das kann man aber ganz einfach daran festmachen, dass mich die Treppe wieder besser hochkommen oder wir weitere Gehstrecke haben oder weniger müde bin, vielleicht. Das natürlich dann die Lebensqualität davon profitiert. #00:16:06#

Können Patienten in allen Phasen der MS von einem individuell passenden Sportprogramm profitieren, egal ob die Entzündungsaktivität oder eine schleichende Verschlechterung dominant sind?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Also, ja, alle Menschen mit MS können davon profitieren. Die Frage ist nur wie lange geht das und es gibt wirklich Menschen, die es gar nicht gut geht, die gar nicht mobil sind, also ich meine damit nicht nur Rollstuhl, sondern vielleicht sogar bettlägerig, da kann ich natürlich nicht anfangen mit Sport, das wird schwierig, wobei natürlich Rollstuhl und sportlich sich nicht gegenseitig ausschließen, das muss man auch ganz klar sagen und ich auch immer wieder Menschen kennenlerne, die vielleicht im Rollstuhl sitzen oder sitzen müssen und die anfangen sich wieder mehr zu bewegen und durchaus wieder ein gewisses Maß an Mobilität erlangen.

Also Sport ist kein Allheilmittel, aber ich erinnere mich an eine Patientin in der MS-Sportsprechstunde, die wir aktuell anbieten, die mit einem Rollstuhl angefangen hat zu klettern und mittlerweile wieder klettert und also auch ausgiebig klettert oder wieder Tischtennis spielt, und zwar im Stehen und das natürlich dann beeindrucken, wie das geht. Gut, dass das positiv verstärkt, das glaube ich ganz klar. Also es können im Prinzip ein sehr breites Spektrum an Menschen schon mit MS von Sport profitieren und vom Trainingsprogramm. Das, was dann gemacht wird, muss natürlich individuell betrachtet werden. Das ist ganz wichtig. #00:17:43#

Wie wichtig ist Ausdauersport und welche Effekte hat er bei MS?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das ist das, was uns am meisten umtreibt, eigentlich, weil immunologisch durch den Ausdauersport am meisten passiert. Also es ist natürlich nicht so das Kraft- und Ausdauertraining  auf der molekularen Ebene, also was Systeme schon auf lokalem Schienen gewebt passiert. Dann gibt es sehr große Schnittmengen, aber es gibt eben auch sehr differenzierte Anpassungserscheinungen und gerade, wenn man sich mit dem Immunsystem beschäftigt, dann ist eben das Ausdauertraining einfach der potente Reiz, um es vorsichtig zu formulieren. Und deswegen ist das wo wir den Forschungsfokus drauf haben, das heißt aber nicht weil wir das machen, dass das Krafttraining nicht genauso wichtig ist.

Also versuche ich mal so ein bisschen attraktiver zu formulieren. Es kann sein, dass ich durch den Ausdauersport nur logisch größeren Effekt habe, dass mir aber der Ausdauersport vielleicht nicht so gut dabei hilft die Treppe hochzukommen. Da brauche ich Kraft und Ausdauer.  Deswegen möchte ich das gar nicht gegeneinander aufwiegen und wir werden vielleicht ja nachher noch mal über Bewegungsempfehlung uns unterhalten. Vielleicht auch das, was von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird.

Und da stellt man ganz schnell fest, dass beide Faktoren mit reinspielen. Aber der Ausdauersport ist für uns vor allem interessant, weil da in immunologisch mehr passiert und wir wirklich davon überzeugt sind, dass das mit Blick auf die Krankheitsmodifikationen größeren Einfluss hat. Deswegen beschäftigen wir uns ganz viel mit Ausdauersport. Und dann ist Ausdauersport auch ein großes Wort und da muss man genauer hin guck mal was uns umtreibt ist so eher die Frage sind eher kontinuierliche moderatere Trainingseinheiten oder kürzere intensive Trainingseinheiten die optimale Dosis, die man da finden kann. Das ist beim Sport im ganz generell gesprochen gar nicht so trivial, weil beim Medikament da weiß ich keine bestimmte Dosierung geben bezogen aufs Körpergewicht oder auf die Körperoberfläche und das ist beim Sport anders. Weil beim Sport ist, dann die Frage, wie oft mache ich das, wie intensiv mache ich das, was mache ich für einen Sport, mache ich Kraft, Ausdauer und so weiter. Dann wird diese Dosierung auf einmal sehr komplex. #00:20:00#

 

Nele Handwerker: Das kann ich mir gut vorstellen. Ich bringe meine Tochter immer mit dem Fahrrad zur Kita, das sind 2 km, aber da ist aber eine kleine Steigung dabei. Die wiegt 15 kg, sitzt hinten drauf und dann fahre ich anschließend die gleiche Strecke zurück, ohne Kind. Aber das sind immerhin 8 km, wenn auch in kleinen Etappen. Meine Eltern habe ich gestern besucht, dann fahre ich mit dem Fahrrad zehn Kilometer pro Richtung, da ist es ein bisschen mehr, ist sicherlich ein anderer Effekt. #00:20:29#

 

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Also, die Dauer spielt natürlich eine große Rolle, wie lange belaste ich mich. Es gibt nachher riesige Unterschiede auch ein Blick auf die Nachhaltigkeit sozusagen, also wenn ich einen intensiveren und längeren Reiz setze, dann hält der Effekt in der Regel auch länger an, zumindest bestimmten Immunzellpopulationen und genau das ist es, was uns im Leben interessiert, wie steuere ich das optimal. #00:20:50#S

Warum sollte man auch Kraftsport machen als MS-PatientIn?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das eine ist die Kraftfähigkeit für sich, also um alltagstauglich zu bleiben oder um auch vielleicht mehr zu machen. Das andere ist, dass der Muskel natürlich trotzdem ein ganz wichtiges Organsystem ist. Und wir wissen auch dass der Muskel eine ganze Reihe von Faktoren freisetzen kann, die nachher das Immunsystem verändern können, auch das zentrale Nervensystem vielleicht beeinflussen. Wir sprechen immer von [„inter-organ-cross-talk“ in der Sportmedizin oder Molekularmedizin und das ist ein ganz wichtiger Faktor. Deswegen möchte ich den Kraftsport gar nicht weiter an die Seite drängen, aber das ist eben nicht das, was uns primär interessiert, sondern es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die vom Muskel freigesetzt werden, die hochrelevant sind, die im Blick auf die Gesundheit. #00:21:53#

Gibt es eine Empfehlung wie oft und welche Art von Sport man wöchentlich bei MS machen sollte?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Die Frage kommt immer. Völlig berechtigte Frage. Ich versuche das auf zwei Arten zu beantworten. Es gibt einmal globale Bewegungsempfehlung, die sind von der Weltgesundheitsorganisation, die werden auch immer präziser. Und da muss man eben ein bisschen unterscheiden mit dem globalen Bewegungsempfehlung von der WHO, ist es so, dass die im Prinzip drei Komponenten beinhaltet, ich hatte die vorher auch schon genannt. Ausdauer, Kraft und Gleichgewicht für alle erwachsene Menschen werden eigentlich mindestes Kraft und Ausdauersport empfohlen.

Zweimal die Woche Krafttraining. Und damit ist nicht gemeint, nur am Theraband herumzuzupfen, sondern wirklich Muskelaufbau und -erhalten zu betreiben. Der Muskel sollte so gefordert werden, dass er nach diesem Krafttraining, zweimal die Woche so für 30 bis 40 Minuten machen sollte, das der Muskel wirklich erschöpft ist dann an der Stelle. Wenn ich zum Beispiel Kniebeugen mache, dann ist egal ob ich nachher 6 Kniebeugen schaffe mit einem hohen Gewicht oder mit Körpergewicht dann 20 oder 30 Kniebeugen. 

Wichtig ist, dass der Muskel danach erschöpft ist. Das ist ein gutes Maß, das man setzt und Krafttraining, da ist das so, dass die WHO empfiehlt, man sollte mindestens 150 Minuten pro Woche, 150 bis 300 Minuten Ausdauersport in irgendeiner Art und Weise betreiben, das kann aber auch zum Beispiel der Weg zur Arbeit mit Fahrrad sein und da ist es ja nicht so, dass man immer wie ein Wahnsinniger in die Pedalen tritt, das kann natürlich auch moderat sein. Die WHO sagt mittlerweile die Belastung kann durchaus kürzer sein. Es reichen auch 75 Minuten pro Woche im Ausdauer-Kontext, dann aber intensiv.

Deswegen so eine Dosis-Wirkungsbeziehung, entweder kurz und knackig oder länger und dafür ein bisschen weniger anstrengend und das kann man  ganz gut einsetzen, um mit dem Präferenzen der Leuten auch so bisschen zu spielen und das dann wenn da halt geht einzustellen.

Unsere Studien zeigen so ein bisschen oder weisen darauf hin, dass die kurzen intensiven Einheiten sind, die nicht nur eigentlich besser umzusetzen sind im Alltag, sondern die auch einen größeren Effekt haben. Weil sie immunologisch auch größere Auslenkung provozieren und mit Blick auf Anpassungsprozesse auch effizienter sind. Das ist also diese beiden Komponenten von der WHO mit der Kraft und im Ausdauertraining, dann empfiehlt die WHO für Senioren und das würde ich jetzt für Menschen mit MS noch ein bisschen nach unten regulieren oder früher sozusagen einsteigen, das ist das Gleichgewichtstraining.

Ich habe es vorhin schon gesagt, Gleichgewicht hilft scheinbar ganz gut bei Fatigue-Problematiken und auch wenn ich sensomotorisch Probleme habe, ist natürlich gut diese Systeme, zu erhalten, zu trainieren und anzusprechen und zu stimulieren und deswegen würde ich bei Menschen mit MS immer dazu anraten, damit auch frühzeitig anzufangen. Bei Senioren wird das eher gemacht als Sturzprophylaxe und solche Geschichten und da kann man bei Menschen mit MS durchaus sagen, das macht früher Sinn damit anzufangen. Dieses Gleichgewichtstraining kann man schön im Alltag einbauen.

Das kann man eigentlich jeden Tag machen, das muss man nicht eine halbe Stunde machen, das kann man beim Zähneputzen machen, das man sich auf ein Bein stellt, Augen auf, Augen zu und so weiter und sofort. Das ist nichts, was man stundenlang in der Woche praktizieren muss. Das ist eher etwas, was sehr alltagsnah ist. Das sind die globalen Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Ein bisschen angepasst oder konkretisiert am Beispiel der MS und dann kann ich natürlich gucken, dass ich, wenn ich Menschen mit einer spezifischen Problematik habe, dass ich dann auch versuche, spezifisch darauf einzugehen.

Was man vielleicht auch noch dazu sagen muss, ich habe immer die Frage, aber ich spiele gerne Tennis oder ich spiele gerne Fußball und ich gehe gerne tanzen, was ist denn damit und das sind natürlich fantastische Bewegungsformen, die ich immer empfehlen würde. Ich habe einen jüngeren MS Patienten, dem gesagt wurde, er soll aufhören mit Fußball, er meinte auf gar keinen Fall. Fußball ist ein super Sport. Agilität mit drinnen Richtungswechsel, ich habe Ausdauer mit drin, auch Kraft mit drin. Ein fantastischer Sport. Den sollte man auf jeden Fall weiter betreiben und dann muss ich kein zusätzliches Ausdauertraining mehr machen.

Diese Empfehlung kommt daher, dass das die Bewegungsformen sind, die labortechnisch oder in Studien eben am häufigsten untersucht werden. Ausdauertraining kann ich besonders gut im Labor untersuchen, da setzt man den auf das Fahrrad und auf das Laufband mit einem Herzfrequenzgurt und kann das sehr genau steuern. Das ist beim Fußball oder Tennis schwieriger, das heißt aber nicht, dass dieser Sportarten nicht genauso empfehlenswert sind. Das gleiche gilt auch für das Tanzen oder für Yoga. #00:27:47#

Nele Handwerker: Und gerade, wenn ich viel Sport mache, habe ich hier noch eine hervorragende Prophylaxe gegen psychische Sachen, weil sie sehr mit anderen Menschen zusammen Sport machen, was ohnehin noch mal toll ist. #00:27:56#

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das kommt noch dazu, genau. #00:28:00#

Stehen die positiven Effekte auf das Immunsystem im Verhältnis zur Intensität – je mehr desto besser? Und gibt es ein zu viel an Sport?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das ist auch eine Frage, die immer wieder kommt. Die ist nicht so ganz einfach zu beantworten, weil wenn wir uns jetzt mal nur die körperliche Aktivität anschauen, nicht mit Sport zu tun, sondern Sport ist ein Teil von körperlicher Aktivität, aber körperlich Aktivität ist auch der Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad oder zum Einkaufen, Gartenarbeit und so weiter und sofort. Da ist es scheinbar tatsächlich so, dass viel hilft, gilt. Also je mehr, desto besser.

Es gibt dann irgendwann schon so Deckeneffekte, aber es ist nicht so, dass sich dann irgendwann ein negativer Trend auch abzeichnet. Das ist dann, wenn man über Ausdauersport konkret spricht, sehr stark vom Individuum abhängig. Also wenn ein Leistungssportler den Triathlon betreibt, ist das eine natürlich ganz anders belastungsempfänglich und kann auch viel mehr tolerieren und braucht auch viel mehr, um sich weiter anzupassen. Als jetzt irgendjemand der noch nicht, wo er sich bewegt hat. Deswegen ist diese konkrete Empfehlung da gar nicht so leicht.

Das heißt, ich muss das Individuum auch hier wieder im Blick haben und trotzdem ist es so, dass man schon sagen kann, dass auch Pausen wichtig sind, glaube ich, also ich kenne das vor allem aus dem Tumor Kontext. Menschen hören, Sport hilft lebensverlängernd vielleicht sogar zu wirken oder um den Progress der Erkrankung entgegenzuwirken. Dann fangen die Leute auf einmal an wie die Irren  Sport zu treiben, von 0 auf 100 und da muss man aufpassen, weil auch klar sein muss, dass der Körper in den Phasen wo man nichts macht sich eigentlich anpassen kann.

Und wenn ich natürlich immer wieder in die Regenerationsphase massive reinhacke, und einen noch intensivere Belastungsreiz drauf setzte, dann komme ich irgendwann auch in sowas rein, was man als Übertraining bezeichnet und das ist logisch gesehen, da weiß man gar nicht so viel, aber oder erstmal ein bisschen von den Symptomen her, wie bei der Depression.

Die Leute verlieren an Bewegungstrieb, sind unmotiviert, müde, niedergeschlagen und so weiter und so fort und im logisch wird das eben mit einer starken Entzündung assoziiert und akute Belastung macht einen Zündungsreiz und dann passt der Körper sich an und fährt die antientzündliche Kapazität hoch. Wenn ich aber nicht diese Zeit dem Körper gebe, sich anzupassen und einfach einen Entzündungsreiz, einen starken nach dem nächsten setze, dann kommt man eben in so eine Situation rein, das ist ungünstig. #00:30:39#

 Nele Handwerker: Eine Rückfrage, ich habe mal in den USA gelebt, anderthalb Jahre, da war ich sehr oft im Fitnessstudio, sechsmal die Woche und ich habe aber sehr gezielt Kraftsport gemacht. Also, ich war zweimal die Woche schwimmen, dann habe ich Brust und Rücken trainiert, Beine und Po und Arme und Schultern und das immer abgewechselt, damit die jeweiligen Muskelgruppen ihre Entspannungsphasen hatten. Das funktioniert, oder? #00:31:01#

 

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das funktioniert auf jeden Fall. Es ist schon sehr ambitioniert. #00:31:05#

 

Nele Handwerker: Das war früher, da war ich jünger. #00:31:09#

 

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Wenn das so ein Couch-Potato hört, der sich vielleicht jetzt erstmal motiviert Sport zu treiben, ohne das böse zu meinen, dann ist das super ambitioniert sowas. Aber klar, also, wenn man ambitionierter trainieren möchte, dann macht das auf jeden Fall Sinn. Gerade beim Krafttraining wird gerne gesplittet. Also, dass man sagt, ich trainiere an Tag 1 die Muskelgruppe, und am Tag 2 die Muskelgruppe.

Das muss der Normalverbraucher nicht machen, um gesund zu bleiben oder um sich gesund zu halten, sondern da reicht, dass man zweimal pro Woche ein Ganzkörperkrafttraining macht. Da ist es dann eher möglich, große Muskelgruppen und die Muskelmasse anzusprechen, wenn man natürlich dann irgendwie definierte Muskeln haben möchte und da irgendwie an sich verheilt, dann macht so ein Split Sinn. #00:31:59#

Nele Handwerker: Das hätte dann keinen immunologisch negativen Effekt, aber ja, natürlich ist das nicht die häufigste Situation.

Welche Empfehlungen haben sie für Menschen mit MS, die bisher eher wenig Sport gemacht haben?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Ja, also ganz abgesehen von denen, die gerade schon genannt haben, ist es ganz wichtig, sich erstens klarzumachen, dass Bewegung und Sport ein ganz wichtiger Teil der Therapie sind, und zwar evidenzbasiert, also vorher schon erwähnt. Sehr viel Studien zeigen das bringt was und da muss man sich natürlich überlegen, also wenn man sich das klargemacht hat und vielleicht bis dato noch nicht körperlich aktiv war, oder noch nicht Sport getrieben hat oder nicht trainiert hat, was mache ich denn?

Und dann ist natürlich immer mein Rat Nummer eins, sich irgendwas zu suchen woran man auch Freude hat oder Spaß dran hat. Ich glaube das ist essenziell. Das sehen wir auch in der Rehaklinik großartig. Dieses Intervalltraining mit den Leuten umsetzen das funktioniert dann auch in die drei Wochen in der Reha oder vier, und die Leute kommen nach Hause und dann kommt der Alltag wieder und dann lässt man es wieder bleiben. Das heißt, man muss ich eine Lebensform suche, die einem Spaß macht und es noch völlig egal was es ist erstmal, um den Einstieg zu finden, weil man dann regelmäßig dranbleibt, dann merkt man irgendwann, dass es einem besser geht, und es wird zum Selbstläufer.

Aber an diesen Punkt zu kommen, bis es im Prinzip konditioniert oder automatisiert ist, also das gar nicht mehr drüber nachdenkt, dass man das macht und vielleicht auch gar nicht negativ besetzt ist, das dauert eben ein bisschen. Da gibt’s schöne Studien aus der Psychologie. Die Daten variieren immer so ein bisschen, aber ich habe mal was gelesen, und zwar bis zu 43 Kontakte, die ich mit irgendwas brauche, um dann regelmäßig dranzubleiben. Das heißt, ich müsste, wenn ich jetzt laufen gehen will, 43-mal laufen, das ist schon ganz schön viel. Wenn ich das jetzt zweimal pro Woche zum Beispiel mache, um im Prinzip diese Regelmäßigkeit reinzubringen.

43 ist natürlich der Mittelwert und es wird Leute geben bei denen ist es irgendwie 38, manche Leute bei denen ist es 62 oder 50. Ja, aber ich will damit sagen, man darf nicht mit der Erwartungshaltung reingehen, dass es einem nach dem dritten Mal leichter fällt. Es fällt vielleicht ein bisschen leichter, aber nicht automatisiert. Viele Leute, das hat nichts mit der Kranken zu tun, Leute melden sich Anfang des Jahres nach Silvester im Fitnessstudio an, zahlen da viel Geld, gehen fünfmal hin und dann war es das wieder. Deswegen, was ich immer so bisschen empfehle, ist, das Ganze auch zu dokumentieren, um sich das klarzumachen, wie oft habe ich das getan.

Wie eine Strichliste, die man aus dem Knast kennt. Wenn Leute mit Strichen ihre Tage gezählt haben, ohne das Negative besetzen zu möchten, aber dass man sich klarmacht, wie oft mache ich das Ganze, denn eigentlich oder habe ich das schon gemacht und kann ich jetzt schon wirklich damit rechnen, dass es irgendwie automatisiert ist. Ich glaube, dass es dann schon hilft das Ganze zu dokumentieren und das kann man mit irgendwelchen fancy Apps machen, aber man kann auch einfach eine Strichliste führen am Anfang und dann ist halt wichtig, dass man einen einfachen Einstieg hat. Da gibt es so die Klassiker, dass man sich ein Ziel setzt, was erst mal realistisch ist, dass ich nicht sage, ich will direkt im Marathonlauf und vielleicht auch erstmal irgendwie 5 Minuten am Stück versuchen zu joggen oder zum Beispiel laufen jetzt. 

Das ist glaube ich noch ein zentraler Punkt und dass man das eben im Alltag einfach macht. Dass wenn man es am Morgen macht, die Klamotten schon abends rauslegt und solche Dinge. Aber das ist für mich verhältnismäßig banal. Ich weiß, dass es für viele Menschen nicht so ist und dass der Einstieg schwerfällt, und ich glaube, der soziale Aspekt sollte auch nicht so unterschätzt werden. Das heißt, wenn ich das mit jemandem zusammen mache, ist es auch eine gute Sache, deswegen bin ich kein großer Freund, nicht davon, sich im Fitnessstudio anzumelden, sondern eher vielleicht mal mit einem Personal Trainer zusammenzuarbeiten. Weil die am Anfang geben einem helfen können und eben einem auch dann wird dich gleich abholen zu Hause oder zu einem kommen und dann so ein bisschen, ja, dass wir Startschwierigkeiten nehmen können. #00:35:56#

Was kann dabei helfen, das geplante Sportprogramm regelmäßig durchzuführen und nicht nach kurzer Zeit wieder aufzugeben?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Gute Frage. Ich überlege gerade. Ich glaube, ich kann gar nicht viel mehr sagen, was ich gerade eben schon gesagt habe. Letztendlich muss man mal gucken, also Vorteil, wenn man mal irgendwas regelmäßig gemacht hat, dass man sich klarmachen muss, dass es ein biologisches Gedächtnis gibt. Das heißt, Menschen, die in der Kindheit Sport gemacht haben, die werden schneller wieder fit als Menschen sich hingelegt haben. Weil es ein biologisches Gedächtnis gibt, was belastungsresistent angeht, von daher kann ich dazu nur anraten letztendlich. Auch auf die Motivation gilt das gleiche, was ich gerade eben auch erzählt habe. #00:36:58#

Wo finden MS-PatientInnen Anregungen und Trainingsempfehlungen, die auf verschiedene Level körperlicher Fähigkeiten und Einschränkungen zugeschnitten sind?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Das ist noch so ein bisschen das Problem in Deutschland, wenn wir uns angucken, was in Rehakliniken gemacht wird, was auch im Alltag gemacht wird, da kocht jeder sein eigenes Süppchen. Jede Sportwissenschaft, jede Sportwissenschaftlerin, jeder Physiotherapeut hat immer das beste Konzept. Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen, aber was ich mal problematisch finde, ist, dass ganz wenig davon evidenzbasiert ist.

Rehakliniken, da kenne ich mich so bisschen besser aus. Überall wird anders trainiert und ich frage mich warum ist das so, weil gibt da eine schöne Studienlage mittlerweile eigentlich und da hilft glaube ich nur, wenn noch mehr Studien da sind, nachher und es mit den Leitlinien verankert wird. Das ist glaube ich ein ganz wichtiger Punkt. Also wo wir hinmüssen und dass eben auch die Kostenträger im dazu animiert werden müssen im Blick auf die Evidenzlage. Das geht natürlich nur mit der entsprechenden Evidenzlage, auch Leistungen zu übernehmen, die vielleicht abseits der klassischen Physiotherapie sind.

Auch dafür würde ich mich stark machen, das heißt nicht, dass auch Physiotherapeut und Physiotherapeutin sowas umsetzen können, aber das ist ja in der Regel kein klassischer Sport, was dort betrieben wird, oder kein Training. Es ist anders und ich würde mich eben schon stark dafür machen wollen, dass eben auch gezieltes Training mit einem zertifizierten Trainer irgendwie entsprechend dann den Grundwert nachher und dass eben evidenzbasiert trainiert wird und es gibt schöne Angebote von der DMSG zum Beispiel.

Aber das ist dann eben wieder sehr global und sehr wenig personalisiert. Das, was ich vorher bei den Empfehlungen auch so ein bisschen hab anklingen lassen und auch der Grund dafür warum wir zum Beispiel Sportsprechstunden anbieten. Wir bieten es online an und da geht es nicht darum ein regelmäßige Sportprogramm mit den Leuten durchzuführen irgendwie online, wo die Leute dann vom Computer rumhüpfen, und Übungen machen, sondern ergibt ja darum auf den einzelnen Menschen einzugehen und zu fragen, welche Probleme hast du? Was für Vorerfahrung hast du? Und darauf basierend darauf dann eine Bewegungs- oder eine Trainingsempfehlung zu geben. #00:39:12#

Blitzlicht-Runde

Vervollständigen sie den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose...

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Eine ganz spannende Erkrankung, von der ich hoffe, dass wir sehr viel Evidenz noch weiter schaffen können, um im Prinzip diese Erkrankung für die Menschen möglichst erträglich zu machen. Und vielleicht irgendwann auch an den Punkt zu kommen, wo man sagt, wir haben wirklich einen so großen Einfluss, dass dieser progressiven Erkrankung zuverlässig entgegengewirkt wird. #00:39:45#

Welchen Durchbruch in der Forschung und Behandlung zur MS wünschen Sie sich in den kommenden 5 Jahren?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Ich habe im Vorfeld die Frage gesehen und ich muss ganz ehrlich sagen, ich würde da ungern was zum Thema Sport sagen. Ich wünsche mir einfach, dass vielleicht auch eine medikamentöse Therapie gefunden wird. Vielleicht eine Impfung oder Ähnliches, die vor allem die Entstehung von dieser Erkrankung zukünftig signifikant reduzieren kann und damit glaube ich der Menschheit noch mehr hilft.

Das ist natürlich jetzt nicht etwas, was den Menschen, die diese Erkrankung aktuell Leben vielleicht helfen können, aber das wäre für mich das Allerwichtigste und trotzdem hoffe ich natürlich, dass es auch weiterhin eine andere Therapieform für Menschen gibt, die irgendwann diese Erkrankung heilbar machen. #00:40:34#

Nele Handwerker: Ich verstehe ihre Antwort. Ich hatte Doktor Henry-Jacques Delecluse bereits zu Gast, der erklärt hat, dass 2% aller Krebserkrankung durch den Eppstein-Barr-Virus ausgelöst werden, insofern aus ihrem Gesichtspunkt völlig nachvollziehbar, dass sie ihre Stimme für die Impfung geben. Ich habe eine Tochter und viele von uns haben Kinder und wir würden uns glaube ich alle freuen, wenn die nächste Generation nicht mehr so ein großes Problem mit dem Auftreten der MS hat und man präventiv irgendwas machen könnte.#00:41:04#

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Genau. Immunologisch, glaube ich, dass da einfach sehr viel Potenzial ist. Gerade mit den Impfungen. Ich will es nicht zu progressiv formulieren, aber ich glaube, dass da  forschungstechnisch noch sehr viel Luft nach oben ist. Und das ist eben anders als beim Sport, wir können ganz viele Sachen untersuchen und das wird ein integraler Bestandteil bleiben auf ein gesundes Altern, unabhängig von Erkrankungen jetzt. Aber wenn man einen Durchbruch erzielen will, dann kommt man glaube ich nicht an Medikamenten vorbei. #00:41:33#

Verabschiedung

Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Ich hoffe, dass ich so ein bisschen aufklären konnte und möchte euch dazu animieren, alle Menschen, unabhängig von der MS, euch mehr zu bewegen, weil es eben eine ganz wichtige Geschichte ist. Und weil es, glaube ich, einfach dabei helfen kann, einen die eigene Erkrankung positiv zu beeinflussen und damit eben auch so ein bisschen den Menschen aus der Passivität rausnimmt. 

Mit MRT-Diagnosen, mit Medikamenten, mit der Dosis zu Medikamenten, wieder eine neue Umstellung und so weiter und so fort, da hat Sport oder Training den großen Vorteil, dass man selber etwas dazu beitragen kann und dass im erheblichen Ausmaß auch und das ist, glaube ich was mir am wichtigsten ist und von dem ich hoffe, dass ich ein bisschen dazu animieren konnte. #00:42:23

Wo findet man sie und ihre wissenschaftlichen Arbeiten im Internet?

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Also diese MS-Sportsprechstunde ist kostenlos und wird finanziert von der DMSG NRW, also unterstützt. Auch sehr dankbar dafür und da findet man das auf der Homepage von DMSG NRW, aber da kann jeder teilnehmen, also deutschlandweit meinetwegen auch alle deutschsprachigen Menschen, auch in Österreich und der Schweiz zum Beispiel.

Ansonsten finden Sie unsere wissenschaftlichen Arbeiten natürlich vorwiegend auf den entsprechenden Fachportalen. Also publiziert im Fachjournal unsere Arbeiten. PubMed oder Google Scholar, wenn man dort den Namen von mir eingibt und vielleicht noch MS dazu, die Portale wo man die Originalarbeiten auch findet.

Ansonsten versuche ich auch über irgendwelche Podcasts hin und wieder mal irgendwelche Beiträge und Vorträge, aber das ist unser Tagesgeschäft und das, was wir gut können und wo wir versuchen unseren Beitrag zu liefern. #00:43:33#

Nele Handwerker: Ich habe natürlich vorher ein bisschen recherchiert, aber da waren Sie ganz fleißig, also hatten sie pro Jahr doch einige Publikationen. Vielen Dank, Professor Doktor Zimmer. Vielen Dank für die niedrigschwellige Aufklärung. Alles gut und einfach verständlich. Vielen Dank für die Animation mehr Sport zu treiben, das einzubauen und auch aufzuzeigen, warum das so wichtig ist und dann ihnen natürlich weiterhin viel Erfolg. Ich werde in den Shownotes und im Blogbeitrag natürlich die Seite verlinken, dass du da draußen auch schnell zu Professor Doktor Zimmer findest und da kannst du auf der Seite der Technischen Universität Dortmund sehen, was er alles publiziert hat, und dann kann man ja explizit noch mal in dem Paper nachlesen. Ihnen wünsche ich weiterhin viel Erfolg, vielen Dank. #00:44:33#

Prof. Dr. Dr. Philipp Zimmer: Vielen Dank für die Einladung. Tschüss. #00:44:37#

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben und am besten regelmäßig Sport ;-),

Nele

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