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#241: Vorgehen beim Therapiewechsel und Neues aus der ambulanten Versorgung bei MS mit Dr. Boris Kallmann

Diesmal begrüße ich Dr. Boris Kallmann zu Gast im Interview und wir sprechen über Gründe und Überlegungen rund um einen möglichen Therapiewechsel bei Multipler Sklerose. Natürlich ist es Ziel der Spezialisten, gleich von Anfang an die individuell bestmöglichste Therapie zu finden, die zur Erkrankungsaktivität und persönlichen Präferenzen der jeweiligen PatientInnen passt. Außerdem gibt Dr. Kallmann Einblicke in die ambulante Versorgung und welche Innovationen sich in der letzten Zeit ergeben haben und das Leben vereinfachen und verbessern können. Dr. Kallmann habe ich im Oktober 2023 auf dem Flug nach Mailand kennengelernt, wo der weltgrößte Kongress zur Multiplen Sklerose stattfand. Und das Interview ist eine Fortführung unseres Gesprächs von damals.

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Inhaltsverzeichnis

[00:00:00] Nele Handwerker: Hallo, Herr Dr. Kallmann. Ich freue mich riesig, dass Sie heute mein Gast sind und schicke erst mal ein ganz liebes Hallo nach Bamberg.

[00:00:07] Dr. Boris Kallmann: Frau von Horsten, ich freue mich sehr für die Einladung und bin gespannt auf unser Gespräch.

[00:00:13] Nele Handwerker: Genau, wunderbar. Und für alle da draußen, die verwirrt sind, von Horsten heiße ich ja jetzt schon seit ich verheiratet bin. Ich lasse den Podcast weiter unter Handwerker laufen, einfach weil es simpler ist. Jeder weiß, wie man Handwerker schreibt. Und ich hieß ja 40 Jahre Handwerker.

[00:00:26] Dr. Boris Kallmann: Von Horsten ist auch ein sehr schöner Name.

[00:00:30] Nele Handwerker: Ist auch ein sehr schöner Name, natürlich. Meine erste Tochter, die kam vor der Heirat zur Welt. Da haben wir uns gleich für den gemeinsamen Nachnamen von Horsten entschieden, und die Heirat und Namensänderung folgte etwas später. Genau. Am besten wäre natürlich, wenn Sie sich vielleicht ganz kurz den Hörerinnen und Hörern selbst vorstellen, damit die wissen, wen ich heute hier als Interviewgast habe.

Vorstellung – Wer ist Dr. Boris Kallmann?

[00:00:50] Dr. Boris Kallmann: Ja, ich will nur nochmal meinen Namen sagen, Boris Kallmann. Ich lebe schon seit längerer Zeit in Bamberg, genau seit 2007. Hatte vorher auch schon Stationen in Bayern, in Würzburg. Und in Würzburg bin ich so in die Neurologie eingestiegen und lange, lange Zeit war in Würzburg das Thema Neuroimmunologie und vor allen Dingen Multiple Sklerose. Das heißt, aus der Zeit heraus kommt mein großes Interesse an dieser Erkrankung, die Erkrankung zu verstehen. In Würzburger Zeiten, da war ich elf Jahre an der Uni, auch die Erkrankung zu erforschen. Grundlagenforschung, aber auch klinisch praktischer angewandter Forschung. Ja, und dann kam irgendwann der Zeitpunkt, zu überlegen, was macht man als nächstes? Also mein Leben teilt sich auch mal so grob in Dekaden ein und dann war wieder so eine Dekade um und dann hat es sich für mich ergeben, einen Schritt weiterzugehen. Und der war lokal gesehen nicht so weit weg, nämlich nach Bamberg, um mich niederzulassen. Eine Sache, die ich eigentlich nie vorgehabt habe. Jetzt im Nachhinein bin ich nicht ganz unglücklich, dass ich den Schritt aus der Klinik heraus gemacht habe, weil er mir ganz andere Möglichkeiten gibt von den Dingen, die ich für wichtig erachte als Neurologe mit dem Fokus auf MS, meinen Alltag ganz anders gestalten kann, als es in vorgegebenen z.B. Klinikstrukturen der Fall wäre. So, und 2007 bin ich hier angelandet, habe mein Thema weiterbearbeitet, habe ein MS-Zentrum hier in Bamberg gegründet seit der Zeit. Und ja, über die Jahre hinweg das weiter ausgebaut, aufgebaut. Und das heißt für mich, ich bin niedergelassen mit einer Praxis, die sich mehr als die Hälfte der Zeit, und auch was die Patientenanzahlen angeht, sich mit der Erkrankung Multiple Sklerose in all ihren Aspekten auseinandersetzt. Und das heißt auch für mich war es eigentlich wichtig, von der Uni kommend, Forschungsgeschichten weiterzumachen. Ich habe da anfangs auch gleich die Möglichkeit gehabt, an klinischen Forschungen teilzunehmen, also Medikamente mitzuerproben. Und damit auch schon früh Erfahrungen mit einer Substanz zu sammeln. Aber auch den Patienten ein zusätzliches Angebot, neben der Standardtherapie, der zugelassenen Therapieform, zu sagen: „Ja, für dich oder Sie gibt es auch noch eine andere Möglichkeit derzeit.“ Also die Studienteilnahme, sowas anzubieten. Und das läuft natürlich nicht nur in Phase 3 Studien, sondern auch in vielen kleinen Projekten. Und es macht mir Spaß und ich glaube, dass ich diesen Spaß auch den Patienten rüberbringen kann. Spaß im Sinne von: Ich bin aktiv. Ich kann selber was tun und lerne auch was, auch als Patient.

[00:03:32] Nele Handwerker: Ja, sehr spannend. Und da haben ja die Patienten bei Ihnen Glück, dass obwohl jetzt eine Dekade rum ist, sie immer noch in Bamberg sind und nicht wieder weitergezogen sind.

[00:03:40] Dr. Boris Kallmann: Das stimmt. Ja, ja. Ich habe auch schon gedacht: Mensch, bisher war das ja immer so mit den zehn, elf Jahren. Ich bin immer noch hier.

[00:03:47] Nele Handwerker: Das ist wunderbar. Und es ist auch eine sehr schöne Stadt. Ich habe mal als Werkstudentin bei Siemens Medizintechnik in Forchheim gearbeitet. Da habe ich auch ein halbes Jahr in Bamberg gewohnt, weil ich Bamberg spannend fand mit all den Studenten und so.

[00:04:01] Dr. Boris Kallmann: Vielleicht liegt es daran. Es ist eine unglaublich spannende Stadt, die in jeder Weise ganz alle Aspekte, die man so im Leben gerne um sich herumhaben möchte, bietet. Und deswegen bin ich hier hängen geblieben.

[00:04:11] Nele Handwerker: Verständlich. Jetzt haben Sie schon ein bisschen gesagt, seit wann Sie MS-Patienten behandeln. Wie viele Betroffene betreuen Sie denn in Ihrer Praxis im Quartal? Sie haben gesagt, ein bisschen über die Hälfte, aber jetzt wissen wir ja nicht, wie viel das bedeutet.

Multiple Sklerose Expertise

Seit wann behandeln sie Multiple Sklerose Patienten und wie viele Betroffene betreuen sie in ihrer Praxis im Quartal?

[00:04:26] Dr. Boris Kallmann: Genau. Was bedeutete das? Ich muss dazu sagen, natürlich bin ich in Bamberg seit 2007. Aber mit dem Thema neurologisch setze ich mich seit 1996 auseinander. Also ich habe, vielleicht noch das ganz kurz vorweggeschobene Komma, initial Innere Medizin gemacht mit dem Fokus auf Diabetologie. Ich habe zu dem Bereich auch einiges geforscht, meine Promotionsarbeit gemacht. Und da ging es immer um immunologische Fragestellung und dann war es eine Sache, die sich gezeigt hat vom Grundverständnis, dass sie nicht nur beim Typ-1-Diabetes, also junge Leute, da eine Rolle spielt, sondern dass man diesen Mechanismen auch in anderen Erkrankten sieht. Zum Beispiel Multiple Sklerose und so. Das war die Brücke für mich, aus der Inneren Medizin in die Neurologie rüberzugehen. So, 1996, 2007. Also das war vorher in Würzburg, jetzt hier in Bamberg. So, und auf die Zahl bezogen, sind es, man kann so sagen, ein niedergelassener Arzt sieht vielleicht so zwischen 900 und 1000 Patienten, Individuen in drei Monaten. Es ist nicht gesagt, wie oft ich denjenigen sehe, sondern das ist wirklich eher problembezogen. Das kann sein, dass ich ihn einmal sehe. Oder es kann auch sein … Also, wenn ich sage „er“ meine ich natürlich auch „sie“. Mehrfach, je nach Fragestellung. Und Sie können die Hälfte davon nehmen. Das heißt, ich sehe 500 MS-Patienten, Individuen, in drei Monaten.

[00:05:44] Nele Handwerker: Ordentlich.

[00:05:46] Dr. Boris Kallmann: Niedergelassen. Wir denken oder reden in Scheinen. So schaut die Zahl aus.

[00:05:56] Nele Handwerker: Okay, super. Ja, spannend, spannend. Und zum Glück haben wir Sie rüber in die Neurologie ziehen können. Das muss an den netten Patienten liegen. 😉

[00:06:00] Dr. Boris Kallmann: Das ist es, genau.

Wie bleiben sie auf dem aktuellen Wissensstand, was die Behandlung von MS-Patienten angeht?

[00:06:06] Nele Handwerker: Wir haben uns ja tatsächlich persönlich im Flieger getroffen auf dem Weg zum ECTRIMS.

[00:06:18] Dr. Boris Kallmann: Genau, das war wirklich ein überraschendes und schönes Zusammentreffen, weil wir ja gleich tief in die Gespräche eingestiegen sind und das jetzt heute fortführen können. Ja, das ist sehr vielfältig. Ich nutze natürlich die Chance, zu bestimmten Kongressen zu reisen. Sie haben die ETRIMS genannt. Ich denke, da ist ja die europäische und es gibt in ähnlicher Weise auch die amerikanische. Das ist sicherlich, wenn ich was lernen möchte und sehen möchte und hören möchte, was passiert nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit, dann reise ich dahin. 

Und deswegen ist das für mich eigentlich eine Pflichtveranstaltung, die zur Fortbildung absolut notwendig ist. Aber dann gibt es vor allen Dingen natürlich das Netzwerk, was man sich aufgebaut hat mit vielen Kollegen in diesem Bereich. Viele waren ja bei Ihnen auch schon im Podcast dabei. Also es ist eine, ich darf es mal neudeutsch sagen, eine Community, die sich kennt, die sich auch vertraut damit und die sich auch austauscht über Dinge. Und es ist ja nicht alles sofort in Stein gemeißelt, sondern es ist ja, wenn wir über Therapieformen sprechen und diese auch weiterentwickeln wollen, dann kommen ja Erfahrungen zusammen. Und das Entscheidende, um Experte oder Expertise zu sammeln heißt nur, ich sehe nicht nur einen Patienten, sondern ich sehe viele Patienten und lerne mit meinen Patienten. Die lernen von mir, ich lerne von ihnen. Also das ist ja dieses gegenseitige Befruchten. Also auch darüber halte ich mich auf dem Laufenden.

Dann, ich habe es gerade mal hier, die Hörer können es nicht sehen, aber ich knistere mal ein bisschen mit der Zeitung. Da gab es jetzt gerade einen sehr interessanten Artikel, der in vielen Zeitungen, einschließlich der Frankfurter Allgemeinen, im Wissenschaftsteil, nein, „Deutschland und die Welt“ kam. Da ging es nämlich darum, um die MS und ihre Entstehungsgeschichte und den genetischen Background; zu sagen, MS ist einerseits ein Schicksal, eine chronische Erkrankung, aber die Frage ist natürlich gerechtfertigt, warum oder wie weit vererbt sich das und hat das nicht vielleicht sogar in unserer Entstehungsgeschichte der Menschwerdung vielleicht auch Vorteile gehabt. Und diese neuen Untersuchungen, die in diesen Artikeln zusammengefasst sind, und ich glaube einige werden es vielleicht an anderen Stellen auch davon gehört haben, sind ultraspannend, weil sie genau das nämlich zeigen, dass es genetisch zwar die negativen Auswirkungen die Erkrankungen sind, dass aber mit diesen negativen Auswirkungen auch was Positives verbunden war, sonst hätte sich diese Gene nicht durchgesetzt und auch noch weiterhin ist. Denn es ist, wir sagen ja, eine aggressive Form vielleicht des Immunsystems, die bei der MS eine Grundlage bildet. Aber wir brauchen diese aggressiveren Formen des Immunsystems, zumindest in bestimmten Lebenssituationen auch, um immunologisch mit Erregern, mit Viren zurechtzukommen. Also in der Evolution, in der Entwicklung war das irgendwann ein Vorteil und ist es vielleicht immer noch. Und Vorteile sind manchmal eben auch mit Nachteilen verbunden. Da lese ich also die Zeitung und ich bin viel im Internet unterwegs. Da hat man so seine Podcasts und seine Literaturreferenzen. Im Grunde genommen ist es jeden Tag aufmerksam zu sein, jeden Tag E-Mails zu checken und viel zu lesen und zu kommunizieren.

Wie versuchen sie PatientInnen über wichtige Neuerungen zu informieren?

[00:09:38] Nele Handwerker: Also im Eins-zu-Eins wird das ja relativ aufwendig bei dem, was Sie alles an neuen Informationen aufnehmen.

[00:09:50] Dr. Boris Kallmann: Das stimmt. Deswegen habe ich bisher eigentlich immer einmal im Jahr eine große Veranstaltung gemacht, den Bamberger MS-Tag. Ich habe ihn sogar in Covid-Zeiten weiterlaufen lassen und habe ihn da digital gemacht. Und ich hatte eigentlich immer eine erfreuliche Zuschauerschaft. Wir waren fast immer 400 Interessierte, also Betroffene von der Erkrankung, aber auch viele Angehörige, und das haben wir hier in der örtlichen Kongresshalle veranstaltet. Also auch da, das ist so eine gute Möglichkeit für mich, Dinge weiterzugeben und also nicht nur selbst was erzählen zu können, sondern ich lad mir dann auch immer Leute, so wie Sie das machen, Menschen, die mich interessieren, deren Geschichte mich interessiert in Bezug auf die MS, die unterschiedlichen Aspekte dieser Erkrankung erforschen, bearbeiten, Menschen betreuen. Das ist für mich ein schönes Format, um auf großer Bühne vielen Menschen Informationen weiterzubringen und auch zu kommunizieren.

Gründe und Vorgehen für einen Therapiewechsel bei Multipler Sklerose

[00:10:53] Nele Handwerker: Ja, super, genau. Jetzt ist ein Schwerpunkt unseres heutigen Interviews das Thema Therapiewechsel. Man bekommt die Diagnose in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Bisher ist MS nicht heilbar. Bei einer Lebenserwartung von 80, 90 Jahren bedeutet das viele, viele, viele Jahrzehnte MS. Und da steht für viele mindestens ein Therapiewechsel an. Ich persönlich kenne mich damit null aus, weil, toi, toi, toi, meine erste Therapie bei mir nach wie vor funktioniert. Superresponder. Mal sehen, wer weiß, wie lange, aber sie funktioniert halt noch.

[00:11:20] Dr. Boris Kallmann: Deswegen würde ich die Frage Therapiewechsler auch sehr differenziert beantworten. Jetzt bin ich Ihnen ins Wort gefallen. Aber es gibt sehr viele, und jetzt rede ich den Satz bei Ihnen noch zu Ende, die auf ihrer Therapie auch bleiben.

[00:11:33] Nele Handwerker: Genau, und das ist super. Und die können sozusagen weghören oder hinhören, denn es kann natürlich auch immer mal passieren, also das weiß ich auch bei meinem Medikament. Es kann sein, dass irgendwann die Wirksamkeit verfällt, dass das irgendwann nicht mehr funktioniert. Habe ich zumindest im Studium kennengelernt, wäre möglich. Ich hoffe, das ist nicht so. Aber wäre rein theoretisch möglich, dass irgendwann ich nicht mehr darauf reagiere. Aber gut. Bisher funktioniert bei mir alles super.

Was sind die häufigsten Gründe für einen Wechsel der verlaufsmodifizierenden Therapie bei Menschen mit MS?

[00:12:06] Dr. Boris Kallmann: Kleine Vorrede noch dazu sagen, denn mein Ansatz ist eigentlich das Wort Therapiewechsel, versuche ich in meiner Welt wirklich eine untergeordnete Rolle zu geben. Denn das Ziel sollte sein, und das ist bei Ihnen zum Beispiel gut erreicht worden, mit der ersten Therapieentscheidung gleich das richtige Medikament zu finden. Das ist natürlich eine große Herausforderung und das gelingt nicht immer, aber mit dem Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten denke ich, haben wir so viel Auswahlmöglichkeiten. Es ist fast ein bisschen zu viel. Ja, es kann nicht genug sein. Aber wirklich individuell Entscheidungen zu treffen, auch was die Applikationsformen angeht, was mögliche Nebenwirkungen angeht. Also da Berücksichtigungen zu treffen, die individuell notwendig sind, damit eine Therapie auch lang durchgeführt werden kann. Und auch bezüglich der Wirksamkeitslevel haben wir auch verschiedene Optionen. Meine Grundhaltung geht eigentlich in die Richtung, von vornherein zu sagen: „Ich will nicht alle Therapiestufen durcharbeiten“. Sprich, den Therapiewechsel möchte ich eigentlich eher vermeiden. Sondern wenn ich erkenne, dass es nach den Kriterien, die wir in unserer Gemeinschaft kommunizieren und zugrunde legen, und die ich auch im Alltag so überprüft habe für mich, die gelten, früh eine aktive Erkrankung zu erkennen und dann auch den Mut zu haben, da möchte ich auch gleich höher aktiv mit einer Substanz rein. Und dann ist das Wort Therapiewechsel eigentlich eins, was eher in den Hintergrund rutscht. So, was mache ich mit denjenigen? Ja, weil wir gute Möglichkeiten haben, mache ich ein Angebot zu wechseln. Ich würde so sagen, nicht jeder möchte die Therapie wechseln, weil er vielleicht doch schon auch lange Zeit, Jahre Erfahrung hat. Und man muss einfach sagen, da es eine chronische Erkrankung ist, die wir nicht heilen können, ist rein statistisch gesehen unter jeder Therapieform irgendwann mal nochmal Entzündungsaktivität in Form eines Schubes oder neuer MRT-Aktivität. Damit ist zu rechnen und das ist auch nicht gleich als Therapieversagen einzuordnen. Die Sache muss man sich nochmal sehr kritisch angucken. Trotzdem nehme ich es in der für mich wichtigen Aufgabe, zu sagen, wir können optimal therapieren und dieses Ereignis von erneuter Entzündungsaktivität weiter verringern, nehme ich es durchaus als einen Ansatz ein Therapieangebot zum Wechsel zu machen. So, dann informiere ich die Patienten über das, was aus meiner Sicht ansteckt.

[00:14:42] Nele Handwerker: Sehr gut, genau. Wenn wir dann irgendwann an dem Punkt sind, dass man vielleicht noch ein paar mehr Biomarker hat und noch im Voraus besser checken kann, für wen was funktioniert, dann ist es bestimmt sogar noch häufiger möglich, dass man gleich mit dem ersten Medikament das Richtige greift. Und ich hatte jetzt auch bei uns im Studium gelernt, dass natürlich man auch versuchen sollte, gleich den richtigen Griff zu machen und nicht aus Jux und Tollerei zu wechseln, weil jeder Therapiewechsel … Je weniger man wechselt, desto besser und effizienter ist es eigentlich, auch wenn man die richtige Klasse gewählt hat. Das sehen Sie anhand von … Also, wie viele Herde an welchen Stellen sitzen, wie haben die sich zurückgebildet? Da sieht man eine Menge gleich am Anfang bei der Diagnose.

[00:15:25] Dr. Boris Kallmann: Das  Pferd, ich sage es jetzt mal bewusst ein bisschen in die andere Richtung ausgelenkt. Warum soll ich nicht gleich die hoch wirksamste Therapie für mich zum Einsatz bringen? Man könnte also demjenigen antworten, er würde vielleicht übertherapiert werden. Gut, da frage ich, gibt es denn das? Übertherapiert? Aus meiner Sicht eigentlich eher nicht. Ich habe ein gutes Medikament, das funktioniert und die Erkrankung lässt mich in Ruhe. Was ich natürlich nicht möchte, sind Nebenwirkungen. Nebenwirkungen, die mich im Alltag belasten einerseits oder Nebenwirkungen, die vielleicht in 10, 20 Jahren eine Rolle spielen können, weil mein Immunsystem einen Schaden davon genommen hat. Ich glaube, das ist das, was uns im Wesentlichen eigentlich aufhält oder ein Stück weit begrenzt, weil wir das immer im Hinterkopf haben müssen, zu sagen, ja, möglichst optimale, möglichst wirksame Therapie immer in Abwägung, was für potenzielle Nebenwirkungen oder Nachteile könnten sich daraus ergeben. Ich glaube, das ist ein Lernprozess. Da hat sich in den letzten Jahren wahnsinnig viel getan. Ja, weil wir neue Präparate haben. Und da wird sich auch in der Zukunft in unserer Haltung als Behandler, aber auch auf der anderen Seite die Haltung der Patienten, weiter verändern, dass wir glaube ich zunehmend sagen würden, ja, Prophylaxe heißt ja früh etwas Vorbeugendes zu tun, dass wir da noch forscher vielleicht sind, noch ein bisschen offener dafür, Dinge auch auszuprobieren, einen Schritt früher zu tun.

Können sie bitte zunächst noch einmal das Therapieziel NEDA-3 erläutern?

[00:16:48] Nele Handwerker: Genau, jetzt haben Sie schon gesagt, dass natürlich auch unter einer gut funktionierenden Therapie mal die ein oder andere Hickup geben kann. Aber vielleicht können Sie nochmal für die, die es nicht so richtig kennen, erklären, was dieses Therapieziel, was man ja heutzutage anstrebt, NEDA 3 bedeutet und wo man aber vielleicht ein bisschen piano, ein bisschen entspannt sein muss, wenn doch irgendwas Kleines sich zeigt.

[00:17:13] Dr. Boris Kallmann: Schöne Frage. Also erstmal darf ich es übersetzen. NEDA ist für uns im Medizinjargon gebräuchlich, aber das leitet sich eigentlich aus dem Englischen ab und sagt die Kurzform, den ersten Buchstaben von „No Evidence of Disease Activity“. Ins Deutsche übersetzt heißt es: Keine Krankheitsaktivität. Und das ist zunächst mal mit der drei hinten drangehängt so definiert, dass wir in drei Komponenten Stabilität wollen. Das heißt, dass eine, wir wollen kein Schubereignis mehr sehen. Das zweite ist, wir wollen kein Voranschreiten der Behinderung sehen. Was wir zum Beispiel in Form der EDSS mit dem klinischen Score abbilden.

Und die dritte Säule ist das MRT, die Kernspintomographie. Und da sagen wir, wir wollen keine neuen Flecken sehen. Wir wollen keine sich vergrößernden Flecken sehen. Wir wollen keine Kontrastmittelaufnahmen sehen. So, das ist zunächst mal die Basis für NEDA 3. Das kann man sich alles natürlich einzeln angucken. Tun wir auch im Alltag. Und dann kann man es aber, um darüber besser sprechen zu können, in diesem Begriff NEDA 3 zusammenführen. Zur Geschichte vielleicht ganz kurz anzumerken: Das war bei Natalizumab, die Studien dazu, wo man zum ersten Mal diesen Aspekt genommen hat, wo man sagt, wir wollen ja nicht nur… Die Erkrankung ist in so vielfältigen Aspekten zu beurteilen und zu monitorieren. Das sind nicht nur die Schübe, sondern da sind andere Aspekte mit dabei. Insofern setzt man diese Dinge zusammen. Und deswegen ist mit drei eigentlich auch noch kein Ende gesetzt.

Sondern wir nutzen, Sie haben es gerade eben erwähnt, Biomarker. Also das MRT würde ich schon mal als einen möglichen Biomarker werten. Aber wir hoffen, in der Zukunft weitere Biomarker dazubekommen zu können. Das wäre zum Beispiel ein Bluttest. Der ist in Vorbereitung. Und es gibt schon einen ersten Test, der in den USA schon zugelassen ist. Da geht es um eine Eiweißstruktur aus den Nervenzellen, Neurofilament. Und wir lernen gerade, dass, wenn das freigesetzt wird, entweder ins Nervenwasser, und mittlerweile können wir so was auch im Blut messen, dass das assoziiert sein kann, noch ganz vorsichtig, mit Krankheitsaktivität oder mit einer Verschlechterung.

Das könnte also dann NEDA 4 sein, wenn wir so einen Test haben, und wenn wir den in unseren Therapiealltag mit hineinnehmen. Und dann gibt es auch noch ein anderes, dass wir im Kernspin messen, die Hirnatrophie. Ich würde das auch noch mal in ein brutales deutsches Wort übersetzen: Das Hirn schrumpft. Da muss man zur Beruhigung sagen, dass alle unsere Hirne schrumpfen. Das ist leider ein Teil des Älterwerdens. Und insofern muss man nur gucken, ob dieser Schrumpfprozess wirklich eine besondere Geschwindigkeit aufweist. Darüber sprechen wir schon seit vielen Jahren. Einschränkend muss man sagen, wir haben immer noch kein richtiges Werkzeug entwickelt. Die Kernspinn-Technologie ist an dem Punkt noch nicht ganz optimal, um diese Messung des Hirnschrumpfens, was vielleicht auch nur nicht das gesamte Hirn ist, sondern nur in bestimmten Arealen, das richtig einzugrenzen.

Aber da wird viel Arbeit weiter reingeschickt, das wird kommen. Und noch ein Bereich, so 4, 5, 6 wäre auch etwas, wo wir sagen, was wir noch ein bisschen vernachlässigen, mir persönlich ganz wichtig ist, Kognition, also das Denken selbst. Da zählt für mich auch die Müdigkeit, die Fatigue dazu, Müdigkeit, körperlich, geistige Müdigkeit, das beschäftigt ja viele. Und unser Problem oder unsere Herausforderung im Moment ist, dass wir das noch nicht so richtig erfassen und wissen können. Aber das ist Arbeit, die wir tun und tun werden in der Zukunft weiter und wenn man die Geschwindigkeit der Entwicklung in den letzten Jahren sieht, dann macht es mich sehr hoffnungsvoll, dass wir das in den nächsten Jahren dazubekommen werden und damit besser werden, die Therapie frühzeitig zu verstehen und besser einzuordnen und jedem das richtige zukommen zu lassen.

[00:21:20] Nele Handwerker: Ja, genau, denn es kann ja theoretisch auch sein, jemand kommt superschnell mit der Erstdiagnose und da sind noch nicht alle prädiktiven Faktoren so gegeben, die vielleicht auf einen sehr hochaktiven Verlauf deuten, oder das kann ja alles passieren. Und genau, wer da noch mal reinhören will, ich hatte sowohl Prof. Mike Watjes zu Gast, der hat das sehr gut erklärt mit dem MRT, als auch Dr. Hagen Kitzler, der hat das auch sehr gut erklärt und die Neurofilament-Leichtketten, das war mit der Frau Doktor, mittlerweile Professorin Katja Akgün aus Dresden, die sich unter anderem auch meine Neurofilamente anschaut.

[00:21:56] Dr. Boris Kallmann: Ja, so fließt das alles zusammen im Alltag. Und für jemanden, der sich den MS-Patienten anschaut, da versucht man eben die Fäden zusammenzuziehen in der Beurteilung.

 

Was sind die wichtigsten Aspekte, wenn eine Frau mit neuaufkommenden Kinderwunsch über einen Therapiewechsel oder eine Therapiepause nachdenkt?

[00:22:07] Nele Handwerker: Denn es kann natürlich passieren, dass sich so ein Wunsch plötzlich einstellt und nicht lange im Voraus geplant war. Also ich habe zum Beispiel mit 14 gedacht: „Ich setze mal nie Kinder in die Welt.“ Ich bin auch spät Mama geworden, erst mit 38 Kind eins, jetzt mit 43 kommt Kind zwei. Das kann ja sein, man sagt bei Therapiebeginn: „Kommt für mich gar nicht in Frage.“ Und dann wären eben beispielsweise die S1P-Modulatoren empfohlen, die sich nicht gerade eignen für den Kinderwunsch. Und auf einmal ändert sich das und der Kinderwunsch wird plötzlich sehr präsent. Ist ja immer alles möglich.

[00:22:41] Dr. Boris Kallmann: Genau, aber deswegen ist es auch möglich, die Therapie zu wechseln. Sie hatten mich vorher gefragt: Wann kommt das eigentlich in Frage, so eine Therapiewechsel? Ja, das kommt natürlich dann in Frage, wenn sie nicht richtig greift, wenn ich sehe, dass ich die Entzündungsaktivität, die NEDA-Geschichte nicht richtig im Griff habe. Oder es kommt natürlich in Frage, wenn ich relevante Nebenwirkungen habe, die mich in der Lebensqualität einschränken. Oder es kommt in Frage, wenn ich Kinderwunsch habe und auf eine Therapie eingestellt bin, die zwar gut funktioniert, die sich aber nicht gut mit einer Schwangerschaft verträgt.

Zum Glück sind das hier nur einige Präparate, die da Probleme aufwerfen. Und deswegen ist es auch ein Thema bei der Therapieinitiierung beim Beginn, genau diesen Schwangerschaftswunsch zu thematisieren. Sie haben es gerade so schön gesagt: Natürlich kann sich das ändern. Aber für mich, meine Frage ist eigentlich: Können Sie abschätzen, in den nächsten drei Jahren, ob Sie schwanger werden wollen oder nicht. Das ist für mich so ein Zeitintervall, da würde ich sagen, lohnt es sich auch auf eine Therapie einzusteigen, die vielleicht nicht so gut zu einer Schwangerschaft passt, wenn sie aber in dem Moment ganz gut ist. Und da kann man sich immer noch in Ruhe einen Wechsel überlegen. Außerdem, in den nächsten drei Jahren ist schon wieder so viel passiert, dass wir neu darüber nachdenken können. Also dann auch Mut zu einer Therapie, die erstmal eine Schwangerschaft ausschließt. 

Meine grundsätzliche Erfahrung ist, dass die allermeisten MS-Patientinnen und auch Patienten damit sehr seriös und ernsthaft umgehen und auch mit diesem potenziellen Risiko, dass vielleicht unter einer Therapie auch Probleme in der Schwangerschaft auftreten könnten, dementsprechend Vorkehrungen treffen. Also so ein Behandlungszeitraum von drei Jahren wäre für mich einer, der funktionieren kann. Und ich sage auch mal, wenn sich es in einem Jahr geändert hat, dann werden wir in einem Jahr darüber sprechen. Deswegen sind dem aus meiner Sicht keine Grenzen gesetzt. Aber da wir ja wissen, dass eine Einstellung erst sich bewertet werden kann nach größeren Zeitläufen, ist es natürlich schade, wenn wir ein Jahr und wir wechseln dann die Therapie irgendwie für unser Langzeitziel auch so ein bisschen verlieren. Beantwortet das …

[00:24:58] Nele Handwerker: Genau, und wer in das Thema Schwangerschaft reinhören möchte, Kinderwunsch und so, der kann das auch nochmal ganz explizit in das Interview mit der Frau Professor Hellwig. Die Kernaussage kurz zusammengefasst: Es gibt für jedes Problem eine Lösung, weil es zum Glück mittlerweile genug Daten aufgrund des Registers gibt.

Wie gehen sie vor, wenn ein Patient mit den Nebenwirkungen der aktuellen Therapie nicht klarkommt?

Nele Handwerker: Das ist manchmal auch individuell. Also ich weiß, wenn jemand zum Beispiel wie ich einen sehr sanften Verlauf hat, tatsächlich auf so ein sanftes Medikament eingestellt wird, kann das ja sein: „Oh, ich habe hier so Hubbel und das gefällt mir überhaupt nicht.“ Oder: „Ich habe ab und zu Flashs.“ Aus rein therapeutischer Sicht funktioniert das Medikament gut, aber der/die Betroffene mag nicht die Nebenwirkung, die vielleicht noch gar nicht immer dramatisch sein müssen.

[00:25:52] Dr. Boris Kallmann: Nebenwirkung ist ja meist ein Thema früh in der Einstellungsphase. Deswegen ist es natürlich meine Aufgabe als Behandler, früh über die relevanten Nebenwirkungen zu sprechen. Ich glaube, das kann man nicht ausreichend und detailliert genug, wobei ich nicht den Nebenwirkungszettel runterkaue, den ich persönlich auch gar nicht im Kopf habe, sondern eigentlich auf die, aus meiner Erfahrung heraus, relevanten Dinge hinweise, bei den verschiedenen Präparaten und sage, ja, das und das könnte als mögliche Nebenwirkung auftreten. Und ich glaube, dass man, wenn man von vornherein schon weiß, was auf einen zukommen könnte, nehmen wir mal sowas an wie so ein Flash-Phänomen, dass man so eine Hitzewelle hat, das gibt es ja mit einem Oralpräparat im Zusammenhang.

Wenn man das schon weiß, dass man das ganz anders erlebt und verarbeitet, als wenn es mich wie so eine plötzliche Welle – „das hätte ich aber gerne vorher gewusst“ – überrollt. Und dass damit auch die Auseinandersetzung ganz anders stattfindet und auch das sich daran gewöhnen. Also deswegen zunächst erstens intensiv bei der Vorbereitung über die Wirksamkeit sprechen, aber natürlich auch im Vergleich über das, was den Alltag einschränken könnte. Im nächsten, in der nächsten Stufe, man hat sich für ein Medikament entschieden, man merkt, dass da Alltagsprobleme sind, dann gilt es doch erstmal die Möglichkeiten einzusetzen und zu besprechen, die helfen können, dass im Alltag leichter zu machen oder ganz wegzubringen. Davon gibt es ja zu jedem Präparat mittlerweile ausreichend Erfahrung, um zu sagen: „Komm, probiere mal zum Beispiel bei dem Oralmedikament, was vielleicht Magenprobleme machen kann, nimm es mal zum Essen, nimm bestimmte Essbestandteile dazu oder weg, guck dir die Tageszeit nochmal an, vielleicht verträgst du es zu einem anderen Tageszeitpunkt besser.“ Also Möglichkeiten auszuspielen. 

Wenn man dann aber nach dem Zeitraum von zwei bis drei Monaten merkt, das funktioniert nicht, das kriegen wir nicht in den Griff und ist eine relevante Einschränkung der Lebensqualität, dann muss ich sagen, raus damit. Dafür haben wir genügend Ausnahmen, dann wird es abgesetzt und dann probieren wir was anderes. Das ist mir auch ganz, ganz wichtig, also einer meiner Leitsätze ist bei der Therapieeinstellung: Wir sind nicht auf einer Einbahnstraße unterwegs. Es geht nicht in eine Sackgasse rein, sondern wir haben ständig rechts und links Wege, die offen sind. Ja, wir wollen trotzdem solide etwas nicht von heute auf morgen wechseln, aber wir haben jederzeit die Möglichkeit. An und für sich verbauen wir uns nichts. Das heißt, selbst wenn jemand feststellt, dass er von Präparat A auf B gewechselt, B vielleicht doch nicht so gut war und er eigentlich wieder zu A zurück möchte: Mein Gott, das habe ich nicht so selten. Dann ist A doch auf einmal das, was ich glaube, das Gute war und die Sichtweise darauf eine andere ist. Also, wir müssen einfach nur die Möglichkeiten nutzen, die wir derzeit schon haben in unserem Portfolio, in dem breiten Angebot und auf jedes Problem gibt es eine Antwort und eine Lösung.

[00:28:50] Nele Handwerker: Genau, das ist ja das Wesentliche. Und ja, ich bin jetzt gerade letzte Woche, also vor ein paar wenigen Tagen sehr viel Autobahn gefahren. Es sind im Prinzip so ein bisschen wie die ganzen Autobahnkreuze. Man kann da abbiegen, man kann aber notfalls, wenn man sich verfahren hat, nochmal zurück. Am Ende führen alle Wege nach Rom, und für die MS hoffen wir bei NEDA anzukommen.

[00:29:00] Dr. Boris Kallmann: Genau das ist es.

Welche typischen neu hinzukommenden Erkrankungen, sogenannte Komorbiditäten, können ein Grund für einen Therapiewechsel sein?

[00:29:34] Dr. Boris Kallmann: Ja, ich denke, man muss vielleicht die Synergien daraus finden. Also Dinge, die man… Dass man sagt, man hat nun zwei Erkrankungen. Vielleicht lässt sich das mit einem Medikament beachten. Es gibt ja die Indikation, für manche Präparate, die kommen ja aus einem anderen: Ich nenne jetzt mal ein Beispiel wie Teriflunomid. Das ist eine Substanz, die kennen wir Neurologen jetzt erst seit 2013 ist es zugelassen, aber in der Rheumatologie schon in den 90er-Jahren. Und wir müssen einfach nur ein bisschen über den Tellerrand bei den Kollegen gucken. 

Also, wenn jemand eine rheumatologische Erkrankung hat, und auch MS, dann wäre so eine Substanz, die in beiden Gebieten eingesetzt wird, durchaus eine Chance, beide Erkrankungen gut in den Griff zu bekommen. Das ist zum Beispiel eine Option. Gibt es aber eben auch für andere Wirkstoffe, das von vornherein in Überlegungen positiv mit einzubauen und zu sagen: Ja, dieser Wirkstoff ist eben nicht nur für eine Erkrankung, sondern auch für andere autoimmunologische Erkrankungen zugelassen. Das wird auch mehr, weil natürlich jede Firma, die ein Präparat auch anbietet, natürlich die Überlegung hat: Kann man das nicht auch für andere Erkrankungen erfolgreich einsetzen. Zum Wohle der Patienten, aber auch zum Wohle der Firma.

[00:30:51] Nele Handwerker: Genau, solange es „win-win“ ist, ist ja auch nichts dagegen einzuwenden.

Unter welchen Voraussetzungen empfehlen sie eine höher wirksame Therapie und wie treffen sie die Entscheidung für das geeignete Medikament?

[00:30:51] Nele Handwerker: Wir haben ja schon gesagt, am Anfang, manchmal sieht die Erkrankung in Ihrer Aggressivität zunächst anders aus. Ein bisschen was kann passieren, aber was wäre für Sie so ein No-Go, wo Sie sagen, okay, jetzt muss es unbedingt ein höher wirksames Medikament sein? Oder wäre jedenfalls Ihre Empfehlung? Der Patient entscheidet es am Ende immer selbst.

[00:31:24] Dr. Boris Kallmann: Das lässt sich natürlich nur individuell entscheiden. Aber ich sage mal, wenn jemand zwei Schübe im Jahr hat, dann ist das nach dem aktuellen Verständnis der meisten Kollegen, dem schließe ich mich an, das ist eine höher aktive, hoch aktive MS. Dann kommt es immer auch noch ein bisschen darauf an, wo findet denn der Schub statt, beziehungsweise was für Probleme ergaben sich daraus. Und auch das macht natürlich einen Blick in die Zukunft, kann es geben, ob das an einer Stelle ist, die sehr, sehr wichtig ist, weil da ganz viele Fasern durchlaufen. Und man natürlich ein hohes Risiko hat, dass jeder weitere Schub dann an der Stelle Probleme machen kann. Dann werde ich natürlich viel früher auch in eine höher aktive Substanz hineingehen. Und der nächste Punkt ist das Kernspin. Das Ergebnis auch der MRT-Untersuchung. Viele von den Dingen, die wir ja regelmäßig machen, nämlich die MRT-Untersuchung, wenn jemand neue Herde aufweist, dann muss er die ja nicht merken, sondern das Kernspin hilft uns ja, unter die Oberfläche zu gucken, also nicht nur die Spitze des Eisbergs, den Schub zu sehen, sondern alles, was da drunter ist.

Wenn ich da ganz viele neue Flecken sehe, dann ist das auch für mich ein starkes Argument, die Therapie zu wechseln. Und das würde ich auch im Regelfall so sagen, wenn ich drei oder vier neue Herde sehe, dann gehen bei mir auf jeden Fall die Warnlampen an und sage ich, komm, lass uns wechseln. Wie entscheide ich das? Naja, wir haben ja nun so eine Wirkpyramide. Jetzt muss man dazu sagen, das ist ja auch, wir haben ja über Biomarker gesprochen, nicht vorhersehbar, ob die nächste Stufe und da wieder C oder D das bessere Präparat ist. Also deswegen fließt für mich immer wieder ganz viel davon ein, wie wird die Substanz eingesetzt? Kriege ich eine Infusion? Spritze ich das? Oder nehme ich eine Tablette? Und da sind ja auch schon mal ganz… Also, an der Stelle die individuellen Wünsche des Patienten oder der Patientin zu berücksichtigen und mit einzuarbeiten. Dann gibt es ja bestimmte Risikoprobleme zu nennen. 

PML kennen ja die meisten: Progressive multifokale Leukenzephalopathie. Zu gucken … Da hat ja jeder ein anderes Verständnis auch von Wahrnehmung, für sich selber Risiken einzuschätzen. Und ich glaube, das ist so ein Punkt, den muss ich mit dem Patienten gemeinsam besprechen, wie weit macht sich jemand Sorgen, auch unnötig Sorgen manchmal, weil wir können ja mit dem Problem auch umgehen. Wir haben Tests, um im Vorfeld schon zu sagen, hat denn jemand ein Risiko für eine PML oder nicht. Und das ist eine komplexe Überlegung, ein komplexes Gespräch, was man da führt, vielleicht nicht nur einmal, sondern an mehreren Tagen, die Option mal auszubreiten, in Ruhe darüber nachzudenken. Und individuell muss jeder für sich dann die Entscheidung treffen. Aber ich glaube, so wie alle anderen Therapeuten auch, versuchen wir so gut wie möglich an der Seite zu sein und in erster Linie die Ängste zu nehmen. Ich glaube, da sind viel mehr Ängste, die ich jetzt aus meinem Alltag heraus sage, das ist unnötig, das ist nicht gerechtfertigt. 

Auch wenn ich, also derjenige, im Internet was dazu gelesen hat oder von XY was dazu gehört hat: Nein! Also da wird so vieles, leider auch Falsches, kommuniziert, eher in diese Angstrichtung, dass ein großer Teil meines Jobs auch ist, wieder Ängste zu bearbeiten und wegzukommunizieren und zu sagen: „Nein! Wir kontrollieren. Wir machen alles Mögliche an Sicherheitstests und dann gelingt uns das auch, ganz sicher eine Therapie im Alltag zu etablieren.“

 

[00:35:01] Nele Handwerker: Ja, und gerade Natalizumab ist wirklich sehr spannend, weil da erlebe ich sowohl im Studium auf Seite der Behandler unterschiedliches Empfinden wie kritisch das angesehen wird. Aber auch bei den Patienten, die sagen dann noch bei einem sehr hohen Titer-Status: „Nein, nein, es ist super, ich liebe dieses Medikament, ich möchte das gern behalten“. Und der Behandler dann manchmal wechseln möchte. Das ist ein sehr, sehr interessantes Medikament mit einem großen Spannungsfeld, sozusagen.

 

[00:35:30] Dr. Boris Kallmann: Und es ist ein Top-Medikament. Also ich meine, es gibt mehrere Top-Medikamente, aber es ist der Goldstandard. Und es ist immer noch eines der Medikamente, von dem wir wissen, wenn das gegeben wird, dann ist man auf einer sehr sicheren Seite. Dann ist die Erkrankung in allermeisten Fällen wirklich sehr gut zu behandeln.

Wie gehen sie vor, wen PatientInnen lange Jahre unter einem hochwirksamen Medikament einen Stillstand der MS erleben, also NEDA-3, und gerne wieder auf ein niedrigwirksameres Medikament umstellen oder ganz pausieren wollen?

[00:36:13] Dr. Boris Kallmann: Es ist eine superwichtige Frage und die steht auch mehr und mehr im Mittelpunkt. Es ist wirklich eine Frage, die wir uns derzeit sehr intensiv stellen, zumal es jetzt die ersten Untersuchungen dazu gibt, die verstehen wollen, wie ist denn das, wie hoch ist das Risiko für jemanden, der sich dazu entscheidet, die Therapie abzusetzen. Es gibt noch keine abschließende Antwort darauf. Aber trotzdem lernen wir, und das ist jetzt meine Sichtweise ein bisschen darauf, sage ich auch mal, dass die Erkrankung bezüglich der Entzündungsaktivität, Lehrbuch, zwar bei vielen zur Ruhe kommt oder weniger wird, aber meine Alltagserfahrung ist: Nie ganz. 

Sodass es für mich bisher in den allermeisten Fällen keinen echten Endpunkt gibt, wo ich jetzt jemandem sagen würde: So, bitte lass uns aufhören. Also jetzt spreche ich auch über das Ganze aufhören. Sondern es wäre zum Beispiel eine Möglichkeit, herunterzufahren, also von einer höher wirksamen Therapiestufe auf eine etwas niedrigere. Wenn das notwendig ist, das muss man sich auch fragen, warum denn eigentlich? Die Therapiestufe funktioniert gut, sie macht keine Schäden, sag ich mal, sie belastet denjenigen im Moment nicht. Da muss man sich auch fragen, was bringt es demjenigen, den runterzugehen, vielleicht auf ein anderes Präparat, was er nicht kennt und was ihm vielleicht wieder ganz neue Nebenwirkungen macht. Auch das muss man sich noch mal genau überlegen.

Aber es ist in erster Linie für mich etwas, wo Patienten auf mich zukommen und sagen: „Ich würde aber gerne.“ Und dann bin ich sehr offen dafür, es auch auszuprobieren. Ich gebe zu, dass ich selbst an der Stelle zurückhaltend bin. Also ich gehe selten auf den Patienten zu und sage: „Komm, jetzt ist es aber soweit, jetzt gehen wir runter.“ Ich deute es vielleicht an, wenn ich zehn Jahre absolute Stabilität habe und ein gewisses Lebensalter und weiß, dass das von vornherein eine MS war, die eigentlich sich vielleicht nur mit einem Schubereignis mit einer ganz geringen Läsionslast im Kernspin zeigt. Dann finde ich, kann man den Mut haben, mal aufhören. Wir monitorieren ja weiter, wir machen ja in bestimmten Intervallen weiter MRT. Wenn wir sehen, dass da wieder Aktivität kommt, können wir jederzeit neu beginnen. Also die Option ist auf jeden Fall da. Sie kommt oft eher vom Patienten selbst, der sagt, ich möchte es. Dann finde ich, dann ist es ein guter Punkt, sich darüber Gedanken zu machen.

Von einer höher aktiven MS eine Stufe runterzugehen ist jetzt auch in den Studien noch nicht so richtig erprobt, muss man sagen. Dazu gibt es wenig relevante wissenschaftliche Daten, die überzeugend sind. Es sind also Einzelfallentscheidungen. Da steht immer ein Wunsch des Patienten hinter, der getriggert ist.

Wo ich mir allerdings diese Frage jetzt zunehmend stelle, ist eine andere: Wir haben über Natalizumab als einen super Wirkstoff gesprochen. Wir sollten auch kurz mal auf die CD20-Antikörper zu sprechen kommen. Die sehr potent und wirksam sind. Ein ganz überzeugendes Therapiekonzept. Aber wir sehen auch nicht das PML-Thema hier im Vordergrund stehen, sondern wir sehen ein Abdämpfen des Immunsystems, von dem wir im Moment noch nicht abschätzen können, was macht das mit uns oder demjenigen, der so behandelt wird, in 10, 20, 30 Jahren. Und das ist eine Frage, die treibt mich persönlich schon sehr um. 

Und bei dieser Therapieform versuche ich, das mit Patienten in bestimmten Zeiten derweil nach Stabilisierung auch Überlegungen anzustellen, wie ich vielleicht die Therapie runterfahre, ein bisschen, wie ich vielleicht auch dem Immunsystem die Chance gebe, wieder ein bisschen zurückzukommen, aber nicht zu viel, damit die MS nicht aktiv wird. Das kann man mit der Therapie selbst machen, indem man zum Beispiel das Intervall auf den Dosierungen reduziert. Achtung, das ist jetzt nicht wissenschaftlich in Studien belegt, das ist eine rein individuelle Off-Label-Entscheidung, sage ich hier noch mal ganz klar dazu. Aber man kann es diskutieren. Oder man könnte eben auch diskutieren, mal auf eine andere Substanz mit einem anderen Wirksystem umzusetzen. Sie hatten vorhin die S1P-Rezeptor-Modulatoren genannt.

Ich würde auch noch mal eine Therapieform wie Mavenclad oder so etwas nennen, die auch auf der Wirksamkeitsstufe liegt und eine andere Therapieidee verfolgt. Da geht es nicht darum dauerhaft ein Medikament zu kriegen, sondern hier gibt man einen Impuls und guckt, dass das Immunsystem irgendwo an einer Stelle runterfährt und wieder neu hochkommt. Auch sehr spannend. Das sind so Überlegungen, die an der Stelle für mich kommen.

[00:40:54] Nele Handwerker: Genau, und gerade, wenn dann hoffentlich demnächst mal die Neurofilament-Leichtketten zugelassen werden, würde man ja auch frühzeitig sehen, ob die MS wieder aktiv wir, weil das ja ein Frühindikator ist. Wenn das hochgeht, würde ich zum Beispiel bei einer gepulsten Therapie sehen, keine Ahnung, ich bin jetzt vielleicht schon 50, 55, ich habe auf das umgestellt und dann sehe ich, ist komplett ins Blaue reingesprochen, aber es kommt eben vielleicht nicht nach drei, vier Jahren die MS wieder, sondern nach fünf, sechs und dann kann ich wieder therapeutisch was machen. Wenn ich das überprüfen darf aufgrund der Biomarker, weil sie zugelassen sind als Standard und nicht bloß im Forschungsbereich. Da wird sich ja viel tun.

[00:41:31] Dr. Boris Kallmann: Genau so sehe ich es auch und das wird uns helfen, das besser anzupassen.

[00:41:35] Nele Handwerker: Ja, wirklich spannend. Sehr gut.

Ambulante Versorgung von MS-Patienten

[00:41:35] Nele Handwerker: Jetzt nutze ich die Gelegenheit, da sie niedergelassener Neurologe sind, dass wir uns noch ein bisschen über die ambulante Versorgung von MS-Patienten unterhalten. Ich persönlich kenne fast nur das klinische Setting, zumindest seit 2008.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen speziellen Fachärzten in der ambulanten Versorgung für eine ganzheitliche Behandlung?

[00:41:48] Dr. Boris Kallmann: Und das ist eher, das ist natürlich in bestimmten Regionen ist das so, aber ich glaube, die meisten Patienten kennen eher das ambulante Setting.

[00:41:55] Nele Handwerker: Genau. Deshalb ist das auch super, dass Sie heute mein Gast sind. Wie funktioniert denn die Zusammenarbeit mit anderen speziellen Fachärzten in der ambulanten Versorgung, wenn es um die ganzheitliche Behandlung geht? Da ist ja, glaube ich, jetzt 2023 gerade was passiert.

[00:42:08] Dr. Boris Kallmann: Ja, also Sie sagen es. Ich finde den Begriff schon ganz gut: Ganzheitlich. Weil diese Erkrankung natürlich verschiedene Funktionssysteme erfassen kann. Und das bedeutet wiederum auch verschiedene medizinische Fachdisziplinen. Nehmen wir den Urologen zum Beispiel. Wir brauchen den Labormediziner. Wir brauchen also Kommunikation zwischen den einzelnen Fachgruppen. Und ich glaube, da ist noch viel Arbeit zu leisten. Und das ist… Also ich denke, dass unser ambulantes System schon sehr schön ist, dass wir niedergelassene Ärzte haben, die ich als Patient mir auch individuell aussuchen kann und sagen kann, ja, da möchte ich mich gerne behandeln lassen. 

Da steckt jetzt kein Klinikapparat dahinter, sondern ich kenne denjenigen, dem vertraue ich. Ich finde, das ist diese Behandlerwahl, diese Freiheit, die wir in Deutschland haben, ist eigentlich ein unglaubliches Gut. Auf der anderen Seite ist es auch hier ein kleiner Nachteil, dass man nicht von vornherein Strukturen hat, die uns vorgeben, zusammenzuarbeiten und uns auszutauschen. Das System lässt uns an der Stelle leider auch nicht viel Freiheit oder unterstützt uns bisher auch nicht wirklich darin. Wir sind am Schuften den ganzen Tag und drehen uns im Hamsterrad und dann haben wir nicht genügend Zeit, auch darüber hinauszuschauen, uns zu vernetzen. Das ist aber etwas, was mich sehr, sehr interessiert und umtreibt auch. Es ist erst mal mehr Arbeit, aber ich glaube, am Schluss wird es für alle dann weniger Arbeit, wenn wir gut miteinander sprechen können. Und Sie haben es so angedeutet, genau Ende 2023 gab es eine politische Entscheidung, nämlich im Bereich Multiple Sklerose dies in die sogenannte ambulante spezialärztliche Versorgung hineinzunehmen. Das Ganze wird abgekürzt mit ASV und hat den folgenden Hintergrund, dass man seltene, sage ich mal, was immer auch selten ist, Erkrankungen, die Chance gibt, die verschiedene Arztgruppen zusammenzubringen und ihnen eine Plattform quasi gibt oder sie dazu anregt, eine solche Plattform miteinander zu sprechen und Patienten zu versorgen, unterstützt.

Unterstützen bedeutet natürlich in erster Linie auch irgendwo zu sagen, ihr kriegt das vielleicht auch ein bisschen anders vergütet, ja, um dafür einen Anreiz zu setzen. Ich hoffe aber, dass es über den finanziellen Anreiz, ich sage jetzt schon mal an der Stelle einschränkend, der ist nicht gewaltig, der ist eigentlich im Moment nicht zu erkennen, leider. Trotzdem ist es interessant. Denn das, was jeder Einzelne für sich in dem Bereich macht, wo er arbeitet, … So für mich jetzt in Bamberg, ich habe mein Netzwerk, ich arbeite mit Kollegen zusammen, mit denen ich austausche, von denen ich weiß, ich habe Patienten mit dem und dem Problem. Dann kontaktiere ich den an. Und umgekehrt. Das funktioniert ja schon. Aber dass wir das auf eine wahrnehmbarere Ebene stellen, einerseits für die Patienten, aber auch für unsere gesundheitspolitische Entwicklung. Das, glaube ich, ist das Entscheidende für die Zukunft. Und da haben Sie vielleicht mehr Erfahrung. Ich nehme immer wieder, dass im Osten unseres Landes die Polykliniken ein anderer Ansatz waren, wo sowieso etwas mehr man sich ausgetauscht hat. Und ich glaube, dass wir davon diese positive Vergangenheit wieder ein bisschen was lernen können und das wieder neu etablieren. Die ambulante spezialärztliche Versorgung ist, ich bin gerade dabei sie aufzubauen hier in Bamberg, das ist ja was Regionales.

Und ich bin also im Gespräch mit verschiedenen Fachgruppen und habe die alle jetzt soweit motivieren können, zu sagen, ja wir arbeiten zusammen, wir kümmern uns um das Thema MS. Und ich hoffe mir fehlen jetzt noch die letzten Dinge, um einen Gemeinschaftsvertrag zu erstellen. Das ist ein unglaublicher Verwaltungsaufwand, den man da betreiben muss. Und dann reicht man das ein bei einer zentralen Behörde im jeweiligen Bundesland. Und dann sagt die, ja, ihr seid ein Verbund, wir nehmen euch so wahr und wir unterstützen euch vielleicht daran. So, unterstützen. Ich glaube, dass es für die Patienten ein Riesenfortschritt werden kann, wenn wir die Möglichkeiten haben, schneller die Wege zwischen Neurologen, Urologen, Neurologen, Psychiater, ein Stück vielleicht auch Psychotherapeuten, Gynäkologen, Neuro-Radiologen, ja, die sind alle dann im Netzwerk mit drin, das ausbauen zu können. Und das ist jetzt so die erste Versuchsstruktur, die da wächst. Nochmal viel Arbeit und eine Menge Stolpersteine, aber das gehört halt dazu. Und ich bin da ganz positiv, weil ich denke, es macht Spaß, auch in dem Bereich aktiv zu sein. Ich unterhalte mich gerne mit Leuten. Das war eigentlich … Deswegen bin auch Neurologe vielleicht geworden. „Leute“ heißt nicht nur Kollegen, sondern heißt eben auch Patienten. Ich finde es unheimlich befruchtend, von anderen zu lernen.

[00:47:01] Nele Handwerker: Nicht Anästhesist oder Chirurg. Patienten stillstellen. Nein, ich bin frech. Genau, nee, das wäre total super, weil natürlich dann der Neuro-Radiologe, der ständig die gleichen Patienten wieder sieht, also das war ja ein ganz großes Thema, Sie haben es vor uns angesprochen. Ich hatte es mit den beiden Neuroradiologen, Professor Wattjes und Doktor Kitzler, dass es wichtig ist, dass möglichst die Bilder immer auf dem gleichen Gerät aufgenommen sind, damit sie wirklich vergleichbar sind. Eben weil das schon so schwierig abschätzbar ist: Habe ich an dem Tag viel getrunken, dann ist mein Gehirn hydriert, wirkt es eventuell weniger geschrumpft und, und, und. 

Und genauso natürlich der Urologe, der vielleicht ganz oft MS-Patienten sieht und nicht nur einmal im halben Jahr oder so. Das wäre alles sehr, sehr schön. Und ja, die Polykliniken waren eine feine Sache, weil ich glaube, das waren ja mehr oder weniger niedergelassene Ärzte, die aber alle eng zusammengearbeitet haben. Und dann einfach auf kurzen Wegen und vielleicht auch mal eine Besprechung oder in der Kaffeepause sich gesehen haben und sozusagen ein Zusammenkommen und ein voneinander lernen haben. Also das wäre super. Und wir als Patienten wollen natürlich, dass wir bestmöglich betreut werden, dass alles beachtet wird. Und auch wenn ich eben eventuell eine andere Erkrankung habe, wo ich vielleicht gar nicht dran denke, die meinem Neurologen mitzuteilen, … Je mehr Sachen vernetzt sind, desto weniger passieren irgendwelche Fehler. Und da wird darauf hingedeutet, oh, guck mal hier, ich hatte jetzt eine Untersuchung und die Nieren, die sehen mir nicht gut aus. Da müssen wir mal nachschauen. Und dass du das bedenkst bei deiner Therapieauswahl. Da kommt ja ganz viel zusammen.

[00:48:12] Dr. Boris Kallmann: So ist es, ja? Und deswegen, und das möchte ich auch gleich noch mal als einen Aufruf auch an die Patienten richten: Seid weiter aktiv, beteiligt euch selbst mit dran. Wenn ihr gute Ärzte habt, seid nett zu euren Ärzten. Und den MS Nurses und so weiter. Sie versuchen, alles zu geben. Und unterstützt sie, denn wir haben ja gerade auch eine Entwicklung, die ist ja jetzt nicht nur im Bereich Neurologie so, dass es in der ambulanten Versorgung schwieriger wird. Es geht nicht nur um den Neurologen, sondern auch um den Hausarzt an der nächsten Ecke. Und bitte, bitte seien Sie wachsam und engagieren sich ein Stück weit. Wir sollten uns politisch derzeit eine Haltung, ein Statement abgeben. Und auch in diesem Bereich ist es, glaube ich, ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir Strukturen haben, die wir vielleicht auch noch verbessern können. Aber wir wollen sie auf jeden Fall nicht preisgeben. Das wäre schade. Wir haben schon einiges erreicht. Und ich glaube, gerade in der Versorgung von MS-Patienten, wenn man, ich blicke ja seit Mitte den 90er Jahre mehr drauf, da hat sich so viel Positives getan. Und es wäre schade, wenn uns das verloren geht.

Wie nutzen Sie Apps wie Emendia MS, um PatientInnen besser im Verlauf beurteilen zu können und wie werden diese digitalen Tools von PatientInnen angenommen?

[00:49:37] Nele Handwerker: Absolut, genau. Jetzt gibt es ja andere Neuerungen wie Apps, die man nutzen kann, um auch gerade den Verlauf der MS zu tracken. „Emendia MS“ hatte ich auch mal vorgestellt.

[00:50:07] Dr. Boris Kallmann: Also im Moment sind wir noch auf der Stufe. Ich glaube, dass das Interesse, die Bereitschaft groß ist, aber es muss erst mal auch kommuniziert und geweckt werden. Das heißt, das ist also meine Aufgabe als Behandler, darauf hinzuweisen und es auch ein bisschen schmackhaft zu machen und zu sagen, was kann denn am Schluss dabei rauskommen, wenn derjenige sich jeden Tag Mühe gibt oder einmal die Woche oder so und so ein bisschen so eine Art Tagebuch schreibt oder diese Untersuchung zusätzlich macht. Also ich glaube und Tjalf Ziemssen ist ja nun der Mann, der da ganz viel Energie reinsteckt und der auch beschrieben hat, dass es diese Verbindung braucht zwischen dem Arzt, den Patienten. Der eine stellt es vor, der andere muss es machen. Aber wir müssen eine Einheit sein und sagen, wir machen das ja nicht nur, um jemanden zu beschäftigen, sondern wir müssen auch die Informationen dann da rausholen und sie bearbeiten. 

Und ich glaube, an der Stufe stehen wir gerade, dass wir, und so mache ich es im Moment, einzelnen Patienten das anbieten, die dafür offen sind, die vielleicht auch im Verlauf ihrer Erkrankung, nennen wir es mal zum Beispiel Probleme beim Laufen, etwas haben ein Problem, was wir so nur schlecht erfassen und abbilden können. Und so eine App, die passiv, aber auch aktiv auf dem Handy, was wir immer mit uns tragen, mitmisst, kann ein unglaubliches Werkzeug bieten, mal einen Mittelwert zu bilden zwischen den super Tagen, den nicht so guten, den ganz schlechten Tagen. Diese wahnsinnige Schwankung, die wir ja bei der MS-Erkrankung immer wieder erfahren und die Patienten auch beklagen. Aber es gibt eben irgendwo einen Mittelwert und aus dem heraus müssen wir entscheiden, ob wir gut therapieren oder nicht. Und da hoffe ich mir von den Apps, das muss jetzt noch ein bisschen etabliert werden, aber die ersten Hinweise sind eigentlich ganz gut, da sie uns in der Zukunft helfen werden. mitzumessen. 

Also nicht nur an dem Tag, wo ich bei meinem Neurologen bin, mich neurologisch untersuchen lasse, sondern ich bin eben auch an 100 anderen Tagen messe ich meine Erkrankung weiter. Das versuche ich, mit Patienten zu besprechen. Es sind nicht alle im Moment, denen ich das anbiete, weil wir noch in der Erprobungsphase sind. Aber aus dem Gespräch heraus ergibt sich, dass eine Reihe von Patienten Lust haben, daran mitzuarbeiten. Und dementsprechend sage ich nur, es geht los. Wir erproben das in kleineren Zirkeln, um dann immer wieder die Kreise größer werden zu lassen.

[00:52:31] Nele Handwerker: Sehr gut, genau. Und das gibt einem dann auch die Möglichkeit, darüber hatten wir uns vor dem eigentlichen Interview unterhalten, dass man wirklich bei Bedarf zum Beispiel symptomatisch dann reagieren kann. Man sieht vielleicht nichts im MRT, man sieht nichts bei den Neurofilamenten, aber vielleicht gibt es hier oder da irgendwelche Veränderungen, auf die man reagieren kann. Aber das ist eben, wenn man nur einmal im Quartal, wenn es optimal läuft, oder seltener, wenn es nicht ganz so optimal läuft, den Patienten sieht, ist das ja viel schwerer. Und jede Zeit, die man vergehen lässt, ist immer so ein bisschen schade.

[00:52:41] Dr. Boris Kallmann: Sie sprechen es nochmal an, die symptomatische Therapie. Wir haben viel auch im ersten Teil über Prophylaxe, vorbeugende Therapie gesprochen. Das ist ein wichtiger Teil. Aber ein fast noch wichtigerer ist, ich habe jetzt Beschwerden, wie gehe ich damit um? An dieser Lebensqualität zu arbeiten. Und da, glaube ich, kann man noch viel mehr Energie reinstecken. Das ist mir eine wichtige Aufgabe. Es gibt niemanden, der, jetzt muss ich den Begriff sagen, den wir vorhin eigentlich nicht aussprechen wollten: Es gibt niemanden, der austherapiert ist. Nein, das gibt es nicht, weil es gibt immer neue Ansätze, die man ausprobieren kann. 

Ja, selbst wenn jemand schon 20, 30 Jahre die MS-Erkrankung hat, es lohnt sich nochmal ganz neu darüber nachzudenken und die Probleme, die individuell Schmerzen sein können oder Spastik oder sonst was, die nochmal wirklich herauszuarbeiten und therapeutisch anzugehen. Das muss nicht nur eine Tablette sein. Sondern es kann eben auch das ganze Setting aus der Physiotherapie, der Ergotherapie, all das muss zusammenkommen. Und da erlebe ich immer wieder, dass da weiße Flecken sind bei meinem Patienten und da muss man ansetzen. Da können wir so viel noch zusätzlich herausholen. Das lohnt sich.

[00:53:48] Nele Handwerker: Genau. Und die Lebensqualität erhöhen. Wieder erhöhen. Das ist ganz, ganz wichtig.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit dem E-Rezept gemacht?

Nele Handwerker: Ich selbst habe noch gar kein E-Rezept erhalten?

[00:54:00] Dr. Boris Kallmann: Ah, Sie haben es noch nicht erlebt?

[00:54:02] Nele Handwerker: Nein, bisher nicht.

[00:54:06] Dr. Boris Kallmann: Wir sind ja in Deutschland immer so Problemträger und denken immer, alles was neu ist, erstmal oh mein Gott. Das ist doch gar nicht so schlimm. Also ich würde mal so sagen: Es funktioniert, zumindest für uns hier in der Praxis. Wir haben, das haben auch andere gemacht, im Vorlauf schonmal, im Dezember, mal angefangen, den Testballon steigen zu lassen. Wir haben schon die ersten Tage probeweise durchgeführt. Hätten also immer noch den Rosa-Schein nebenbei ausfüllen können. Und damit waren wir am 1.1. startklar. Und das funktioniert. Wir sparen ein bisschen Papier. Das ist das eine. Aber ich glaube, dass es auch dem Patienten durchaus helfen, weil er nämlich das Rezept jetzt nicht mehr verlegen kann.

[00:54:49] Nele Handwerker: Gehör ich dazu.

[00:54:52] Dr. Boris Kallmann: Wie oft müssen wir Duplikate ausstellen. Das passiert jetzt nicht mehr. Jetzt kann man seine Karte verlieren, aber das ist ein einmaliger Akt. Ich glaube, auf die Karte kann man sich besser konzentrieren. Und damit ist eine sehr viel bessere Weitergabe der Informationen gegeben. Ich finde das durchaus eine Errungenschaft. Mir sind die Schritte jetzt ein bisschen zu klein, die wir gehen. Aber besser kleine Schritte als gar keine Schritte. Und ich hoffe natürlich auf dem Weg der Digitalisierung und Elektronisierung geht es eh, dass wir da noch ein bisschen weiterkommen.

[00:55:45] Nele Handwerker: Das wäre schön.

[00:55:45] Dr. Boris Kallmann: Das heißt, dass wir da uns auch neue Dinge einlassen müssen, aber es sind nicht nur schlechte

[00:55:53] Nele Handwerker: Genau, wir führen das Gespräch ein bisschen, bevor es ausgestrahlt wird, einfach in Vorbereitung auf meine Babypause, sozusagen. Und ich war heute bei meiner Gynäkologin und ich wusste ja, dass ich diese Frage unter anderem an sie stelle zum E-Rezept und ich musste dann sehr schmunzeln, als da wieder das Faxgerät Geräusche machte und ich mir dachte: „Wow. 2024 in Deutschland. Ja, genau.“

[00:56:12] Dr. Boris Kallmann: Also das Faxgerät gehört auf den Elektronikmüll, aber es ist ein Übergangsjahr. Ab 2025 ist das vorbei.

[00:56:23] Nele Handwerker: Sehr gut.

[00:56:24] Dr. Boris Kallmann: Also ich versuche auch gar kein Papier mehr … Ich versuche hier … Ich meine, mein Schreibtisch … Ich bin eigentlich kein sehr ordentlicher Mensch, aber hier auf diesem Haufen da hinten, den Sie da vielleicht auch sehen, ist sonst nichts mehr Papier. Also es macht mich wahnsinnig, wenn jemand mit Papier ankommt. Ne, schick mir eine Mail.

[00:56:40] Nele Handwerker: Ja, das kann man halt auch durchsuchen. Das kann man, wenn es jetzt zum Beispiel um Studien geht bei der MS, da kann ich auch Jahre später, wenn ich eine Fragestellung habe, kann ich die Daten nutzen. Wenn ich da erstmal die ganzen Ordner durchschauen muss, das macht ja keinen Spaß. Also ich kann es nicht verstehen. Aber gut, es wird bestimmt …

[00:56:56] Dr. Boris Kallmann: Es kann jeder von uns, auch jeder Patient, dazu beitragen, dass das funktioniert.  

[00:57:01] Nele Handwerker: Genau. Also ich mache zum Beispiel gerne schon immer meine Termine mit Doctolib und sowas bei den niedergelassenen Ärzten. Das empfinde ich schon mal als eine große Erleichterung.

In welchen Situationen nutzen Sie die Videosprechstunde und wo liegen die Vorteile aber auch Grenzen dieses digitalen Austauschs?

[00:57:22] Dr. Boris Kallmann: Der Vorteil ist, jetzt als ein MS-Zentrum, darf ich schon sagen hier in Bamberg, betreuen wir Patienten, die sind ja mit dem Auto eine Stunde unterwegs, vielleicht manchmal sogar anderthalb Stunden. Und wir haben nur eine Kleinigkeit zu besprechen. Da muss ich auch keinen körperlichen Befund erheben, keinen Neuro-Status. Das ist doch wunderbar. Wenn ich eine Medikation angesetzt habe zur Warnung von Schmerzen oder Spastik, dann möchte ich ein Feedback haben. Und möchte nur den Patienten darin verstärken, sagen, du machst es genau richtig, beziehungsweise hier an der und der Stelle kannst du noch was weiterentwickeln und verbessern. Perfekt mit der Videosprechstunde. 

Jetzt kann man sich natürlich auch sagen, ist doch eigentlich auch mit dem Telefonat möglich. Das gute alte Telefon. Das ist das Verrückte, dass uns Krankenkassen das nicht als Kommunikationsmittel anerkennen. Da muss ich sagen, da schüttle ich wirklich den Kopf, weil ich auch … Weil man auch respektieren muss, dass nicht jeder einen Computer zu Hause hat und nicht jeder computeraffin ist und sagt, ich weiß wie so eine Videosprechstunde funktioniert. Das kann man nicht verlangen und außerdem sind in Deutschland die Verbindungen nicht in allen Ecken so gut, dass man eine Videokonferenz führen kann. Aber der Vorteil ist, ich gucke jemandem ins Gesicht und der guckt mich an und da entsteht natürlich auch eine andere Nähe, finde ich, so zu sprechen, sich zu sehen. Ich kann auch einen Neuro-Status erheben durchaus. Ich habe durchaus schon Fälle gehabt, wie ein Schubereignis zu Hause und am Monitor habe ich bestimmte Übungen machen lassen. Das kann ich mir angucken.

Ich kann zwar keinen Reflex klopfen, aber ich kann sehr wohl sehen, wo Probleme sind, auch was die Sensibilität angeht oder die Kraft angeht oder die Koordination. Also lässt sich wunderbar machen. Gut, der Goldstandard ist, ich habe den Patienten, die Patientin, hier bei mir, aber ich muss sagen, es kann aus meiner Sicht durchaus jedes zweite Treffen unter Umständen auch als Videosprechstunde laufen. Ich biete das gerade den Patienten, die eine große Distanz haben, auch mit an, zu sagen, komm, wir treffen uns schnell. Das lässt sich in fünf Minuten alles besprechen. Jeder bleibt schön zu Hause bei sich. Wir sind nachhaltig.

[00:59:33] Nele Handwerker: Ja, ich hatte das auch gerade für den englischen Podcast. Also das Interview wird übersetzt und wird zeitversetzt, vermutlich Anfang Juni 2024 in Deutsch veröffentlicht. Da hatte ich den Barry Singer aus den USA zu Gast. Und die USA sind abgesehen von den Großstädten ein Flächenland. Man hat die Ballungszentren. Und dann gibt es Patienten, die wohnen nicht nur eine Stunde, sondern manchmal vier, fünf Stunden vom nächsten MS-Spezialisten entfernt. Und da ist es ein Riesenvorteil. Und ich war jetzt gerade zur Konsultation in der Reha-Klinik von Professor Flachenecker, im Quellenhof Bad Wildbad. Und da wurden auch Übungen gemacht mit Ergotherapie oder so. 

Denn ich kann natürlich, wenn jemand zu Hause ein Gerät hat, überprüfen, ist die Handkraft schlechter geworden oder nicht. Da kann ich eine Menge machen oder der Patient läuft vorm Bildschirm. Und ein erfahrener Neurologe, Professor Ziemssen macht das immer ganz charmant, er holt immer seine Patienten ab. Also es wird nicht bewusst angesprochen, dass er den Gang überprüft, aber macht er durch das gemeinsame Laufen zu seinem Zimmer ganz nebenbei. Und das kann man ja alles durch dieses Sehen ermöglichen. Dass das Telefon nicht zugelassen ist, ist mal wieder sehr speziell in Deutschland.

[01:00:32] Dr. Boris Kallmann: Sie sagten, man kann auch gerade viel in dem Bereich Physiotherapie und so Sachen. Die DMSG zum Beispiel bietet ja Funktionstraining an, was ich auch rezeptieren kann. Und das ist ja auch, da hat man einen Therapeuten, den ich sehe und der quasi zu mir nach Hause kommt und mich wiederum sieht und auch wieder korrigieren kann. Also ich glaube, wir nutzen die Möglichkeiten noch nicht optimal aus, an der Stelle individuelles Training zu Hause zu machen. Beziehungsweise auch hier kann ja eine Gruppe stattfinden. Guckt sich, sie macht das mit vier, fünf Leuten gemeinsam. Warum nicht. Und das ist Deutschland. So findet man auch Gruppen, die vielleicht ähnliche Probleme haben. Dann kann man wiederum ähnliche Übungsmuster zusammen entwickeln. Also hier lohnt es sich zu investieren. Also ich meine nicht nur Geld, sondern Zeit und Know-how.

[01:01:16] Nele Handwerker: Ja, ja, absolut. Dass man dann auch ein bisschen die Trainingserfolge zum Beispiel von so einer Reha-Maßnahme länger aufrechterhält und dass die nicht so wegsacken.

[01:01:19] Dr. Boris Kallmann: Genau.

[01:01:20] Nele Handwerker: Sehr gut, Herr Dr. Kallmann, sehr spannend.

Blitzlicht-Runde

Welchen Durchbruch in der Forschung oder Behandlung der MS wünschen sie sich in den kommenden 5 Jahren?

[01:01:35] Dr. Boris Kallmann: Ich habe natürlich den Wunsch. Wir können die Entzündung bei der MS mittlerweile ganz gut behandeln. Und ein Riesenthema jetzt im letzten Jahr, zwei Jahren, ist natürlich auch in die progressive Phase der MS besser eingreifen zu können. Also, das wäre natürlich großartig, wenn wir da neue therapeutische Ansätze finden. Da sind Ideen da. Eine hat momentan einen kleinen Dämpfer bekommen, aber ich würde das noch nicht aufgeben. Ich bin da immer noch voller Hoffnung, dass wenn man sich die Daten vielleicht auch in einer anderen Weise nochmal anschaut, wie wir zu diesen BTKI-Inhibitoren noch was lernen werden, von denen postuliert wird oder angenommen wird, dass die vielleicht auch dieses langsam Schleichende einen besseren Einfluss haben. Also, das ist eine wichtige Hoffnung auf die Zukunft, dass wir das Lernen, besser zu behandeln. Das zweite, wenn ich noch eins dazu sage, ist natürlich das Messen. Das haben wir jetzt ausführlich diskutiert. Also ich würde die Überschrift „Biomarker“ nennen. Die wünsche ich mir und da würde ich aber Schrägstrich „Digitale Marker“ noch mit dranhängen. In der Kombination glaube ich, werden wir in den nächsten paar Jahren, da kommt künstliche Intelligenz, die diese Informationen noch verrechnen kann in einer anderen Weise, als wir einfache Menschen das können. Ich glaube, zusammen mit neuen therapeutischen Ansätzen wird uns das eine ganz neue Tür aufstoßen.

[01:03:02] Nele Handwerker: Ja, und da noch mal kurz zu den BTK-Inhibitoren. Zum einen fand ich es ungewöhnlich, dass, wenn man hofft, auf die Progredienz eine Auswirkung zu haben, sich vor allen Dingen die schubförmigen PatientInnen anschaut. Deshalb, diese Auswertung wird interessant. Und, aber dann ja noch ein anderer Aspekt, der wurde mir erst im Studium klar, dass das ja alles verschiedene Moleküle sind und dass es also auch sein kann, eins der Moleküle funktioniert nicht so gut und andere funktionieren aber gut. Also das vielleicht bloß da draußen für dich, dass du das so abstrakt mitnimmst: Diese Wirkstoffklasse, dem Wirkmechanismus, muss man noch nicht Ade sagen, da gibt es noch viele offene Fragen.

[01:03:44] Dr. Boris Kallmann: Es gibt Potential und noch andere Firmen und noch so viele Studien, die derzeit dazu laufen. Also ich würde sagen, das ist eine kleine Delle, die wir jetzt gerade erleben, aber das ist noch nicht der Abgesang auf die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren, sondern im Gegenteil. Jetzt Mut, jetzt auch nochmal mit einem anderen Blick auf die Daten gucken, das anders erfassen. Und Sie haben es genau richtig gesagt: Man hat sich jetzt die Schübe und die Schubratenreduktion angeschaut. Das ist ja nicht der primäre Fokus dieser Therapie. Und vielleicht kommen in der Zukunft Kombinationstherapien. Machen wir in der Neurologie bisher nicht. Die Rheumatologen machen das tagtäglich. Die kombinieren verschiedene Wirkstoffe und machen die Therapie noch besser. Und da sehe ich uns Neurologen in der Zukunft auch.

[01:04:20] Nele Handwerker: Genau. Hat auch, glaube ich, der Gavin Giovannoni schon einiges zugesagt und andere Experten. Sie schließen sich dem offensichtlich auch an.

Vervollständigen sie den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose... “

[01:04:35] Dr. Boris Kallmann: … eine große Herausforderung, zumal sie individuell angegangen werden muss. Wir haben eine, und ich glaube, unser Gespräch hat das auch widergespiegelt, eine Riesenpalette von individuellen Herausforderungen und dem stelle ich mich gerne. Und weil, und das haben wir ja auch gesagt, weil es so viele nette Menschen gibt.

[01:04:56] Nele Handwerker: Ich versuche immer unseren Charme hervorzuheben. 😉 Aber es ist natürlich für jemanden, der intellektuell anspruchsvoll arbeiten will, ein spannendes Gebiet, weil es so individualisiert ist. Und man trotzdem so ein bisschen Sherlock Holmes sein kann. Ich glaube, wer früher Sherlock Holmes mochte, ist in der MS richtig aufgehoben, denn man muss sich die Patienten wirklich individuell anschauen und kann nicht die eine pauschale Lösung nutzen. Zack, das ist es für alle.

[01:05:15] Dr. Boris Kallmann: Der wird natürlich erst mal Neurologe und dann subspezialisiert er sich und macht seine kriminologische Arbeit weiter.

Welche Internet-Seite können sie zum Thema MS empfehlen?

[01:05:39] Dr. Boris Kallmann: Nicht aus der Kiste, aber ich würde die wesentlichen Säulen noch mal herausarbeiten und sagen, ganz klar für mich, ich bin ja selber auch ein bisschen aktiv bei der DMSG: Ich finde, dass das ein solides Forum ist, auf das man sich immer verlassen kann, auch als Referenz, wenn man mal irgendwas anderes liest.

Wer aus meiner Sicht auch sehr gute Arbeit macht, ist die Amsel. Manchmal fast noch ein bisschen verständlicher, leichter auch die Sachen aufbereitet. Wobei manchmal sich auch der eine oder andere Fehler dort einschleicht. Da muss man eben sehr kritisch trotzdem immer noch mal gucken, aber super Arbeit.

Was ich neu erlebe, ist sowas vom Kollegen Sven Meuth – Reine Nervensache. Hier wird ja nicht nur das Internet, sondern es geht ja schon wieder in Richtung Instagram, was ich ja nicht so regelmäßig, aber auch schon gerne mal nutze. Das ist jetzt auch die Generation meiner Kinder. Und ich finde, da ist was dran, eben nicht nur sich Fashion und irgendwelche lustigen Sachen anzugucken, sondern es kann auch ein Informationsträger sein. Sven Meuth mit seinen nachwachsenden Generationen macht da ganz viel und das finde ich ganz spannend und ich finde, es lohnt sich, da reinzugucken.

[01:06:45] Nele Handwerker: Ja, absolut. Herr Dr. Kallmann, es war ein sehr spannendes, interessantes Interview und eine hervorragende Fortsetzung von unserem Gespräch im Flieger.

Verabschiedung

Möchten sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

[01:07:00] Dr. Boris Kallmann: Frau von Horsten, erstmal danke für die Einladung. Es hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht, kurzweilig, schön, einfach, hier dabei sein zu dürfen. Ich möchte Ihnen an der Stelle natürlich ganz, ganz viele schöne Zeiten jetzt wünschen, die auf Sie zukommen, dass Sie das genießen können. Und mein letzter Wunsch an diejenigen, die uns zuhören heißt: Ja, bleiben sie dran, bleiben sie voller Hoffnung. Ich bin es auch für die Zukunft, denn gerade der Neurologie wurde immer so nachgesagt, Mensch das ist so ein Fach, wenn man da so eine neurologische Erkrankung hat, da kann man dann nichts machen nachher und das ist alles so trostlos. Da sag ich: Nein. Zum Glück konnte ich in den letzten Jahren, Jahrzehnten erleben, dass es genau das Gegenteil ist. Es sind kleine, viele kleine Schritte, die sich weiterentwickeln und da ist erfreulicherweise kein Stillstand. Und auch für die Zukunft erwarte ich spannende neue Sachen. Irgendwann werden wir es noch besser in den Griff bekommen, als wir es jetzt tun. Aber das Jetzt ist das, womit wir arbeiten müssen. Und deswegen auch die Einladung an alle: Nicht nur der Arzt muss es reißen, sondern jeder trägt seinen Teil dazu bei. Also ich freue mich auch über jeden aktiven Patienten, der auch über seinen eigenen Tellerrand hinausschauen kann und Dinge macht, die nicht nur für sich selber, sondern auch für die anderen sind. Ja, ich glaube, das ist eine gute Community, die MS-Patienten, die schon viel auf die Beine gestellt haben. So soll es bleiben.

[01:08:24] Nele Handwerker: Wunderbar, genau. Also vielen, vielen Dank und Ihnen weiterhin viel Erfolg und ich freue mich schon, wenn wir uns nächstes Mal bei irgendeinem Kongress über den Weg laufen.         

[01:08:33] Dr. Boris Kallmann: Ganz meinerseits. Ihnen alles Gute.

[01:08:34] Nele Handwerker: Tschüss.

Bis bald und mach das Beste aus Deinem Leben,
Nele

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Nele Handwerker

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