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Interview mit Prof. Schwab zur „Hit Hard and Early“ Behandlungsstrategie mit neuen Medikamenten | Podcast #075

Porträtfoto von Prof. Matthias Schwab, der einen dunklen anug und eine dunkle Krawatte trägt

Ich begrüße Prof. Dr. med. Matthias Schwab, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums in Jena. Wir unterhalten uns über den Therapieeinsatz, schnell und entschieden gegen Multiple Sklerose vorzugehen, auch bekannt als »Hit Hard and Early«. Denn nach dem neuesten Stand der Forschung soll kein Schub mehr unter Therapie auftreten und wenn doch sofort auf eine stärker wirksame Therapie umgestellt werden.

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Vorstellung

Ich habe 2 leider schon erwachsene Kinder. Übriggeblieben ist nur Nemo, ein schwarzer Kater. Wenn ich wegfahre, dann gerne mit dem Fahrrad, an die Ostsee oder in die Alpen. Und wenn es hier neblig und trüb wird, dann flüchte ich, irgendwohin wo es Palmen gibt.

Wichtigste Stationen bis zur jetzigen Position?

Ich habe in Halle Medizin studiert und dann in Jena den Facharzt für Pathophysiologie und den Facharzt für Neurologie gemacht. Zwischendurch habe ich mehrere Jahre in den USA gearbeitet und zu den Effekten von mütterlichem Stress auf das ungeborene Baby geforscht.

Seit 2006 bin ich Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Jena und leite dort das Multiple-Sklerose-Zentrum und das Schlaflabor. Ich habe mich auch damit beschäftigt, in welchem Ausmaß das ungeborene Baby Umweltgeräusche wahrnehmen kann und von diesen geweckt wird. Seit diesem Jahr bin ich kommissarischer Direktor der Klinik für Neurologie in Jena.

Persönliche Motivation für Beruf?

Ich habe mich schon immer dafür interessiert, warum unser Körper so gut funktioniert. Es ist schon ein kleines Wunder, insbesondere wenn man daran denkt, wie problemlos wir uns aus einer einzelnen Zelle entwickeln und wie reibungslos unser Organismus dann in den allermeisten Fällen funktioniert. Stellen Sie sich einmal vor, was schon für Probleme bei einem viel weniger komplexen Hausbau entstehen.

So wollte ich schon immer die Erforschung unseres Organismus mit der praktischen Medizin verbinden und natürlich beschäftigt mich das „Heilen“ der Multiplen Sklerose, weil sie insbesondere junge Menschen betrifft und man sie lebenslang nicht wieder loswird. Hier wäre doch die Erforschung eines therapeutischen Durchbruchs eine schöne Sache.

Hit Hard and Early mit neuen Medikamenten

Sie vertreten den Ansatz, die Multiple Sklerose schnell und effektiv mit Medikamenten zu unterdrücken. Auf Basis welcher Untersuchungen und Befunde ordnen sie die Krankheitsaktivität bei ihren MS-Patienten ein?

Für die Bestimmung der Krankheitsaktivität bei der MS gibt es leider keine harten Parameter. Solche Parameter hätte man gerne, um den langfristigen Verlauf der Erkrankung (wird sie eher gutartig oder mit vielen Schüben verlaufen) prognostizieren zu können. Dann könnte man auch viel leichter entscheiden, ob man ein hochwirksames Medikament zur Schubprophylaxe einnehmen muss oder ob ein eher weniger wirksames Medikament zur Therapie ausreichend ist. Da wir solche Parameter nicht haben, geben uns die Schubhäufigkeit, insbesondere im ersten Krankheitsjahr und die Zahl der MS-Läsionen im Gehirn und im Rückenmark Aufschluss über die Krankheitsaktivität.

Welche Art und Häufigkeit von Schüben veranlasst Sie ein Medikament zu empfehlen, das stärker ins Immunsystem eingreift, als die Therapien für milde und moderate MS Verläufe?

Die Häufigkeit von Schüben ist viel wichtiger als die Art von Schüben, denn die Symptome, die ein Schub macht, hängen nur davon ab, wo sich gerade zufällig die Entzündung im Gehirn befindet. Auch Schübe mit wenig Symptomatik gehen immer mit einer Entzündung im Gehirn einher.

Die Schubsymptomatik muss man sich wie die Spitze eines Eisberges, der die Entzündung verkörpert, vorstellen. Wie ein Eisberg unter Wasser viel größer als über Wasser ist, so kann auch die Entzündung, ohne dass sie Symptomatik macht, in einem großen Ausmaß vor sich hin schwelen. Ich bin deshalb ein großer Befürworter der modernen Leitlinien der MS-Therapie, die besagen, dass man keinen Schub tolerieren soll. Kommt es zu einem Schub, so muss man die medikamentöse Schubprophylaxe verstärken. Leider können wir bisher noch nicht vorhersagen, auf welches Medikament ein Patient am besten reagieren wird.

Auf der Webseite vom Kompetenznetzwerk Multiple Sklerose steht im einleitenden Text, dass Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab oder Mitoxantron tiefer ins Immunsystem eingreifen und daher zu schweren, zum Teil lebensgefährlichen Nebenwirkungen führen können. Was können Patienten mit der Therapie gewinnen und was riskieren sie?

Bis vor wenigen Jahren konnte man von dem alten Grundsatz ausgehen: „Viel Wirkung bedeutet auch viel Nebenwirkung“. Bei den modernen, in den letzten Jahren entwickelten Medikamenten zur Schubprophylaxe ist dies nicht mehr so. Sie sind zum Teil wesentlich wirksamer als ältere Medikamente und haben trotzdem nur geringe Nebenwirkungen. Hier muss man zwischen Nutzen und Risiken abwägen. Ohne ein ausreichend wirksames Medikament kann man sich sicher sein, dass man irgendwann Behinderungen ertragen muss.

Mit einer ausreichend wirksamen Schubprophylaxe kann man dies verhindern oder zumindest lange hinauszögern. Der Preis dafür sind mögliche Nebenwirkungen, die aber bei den allermeisten Patienten nicht auftreten. Sonst wäre das Medikament nicht zugelassen worden.

Zudem sind die häufigeren Nebenwirkungen der Medikamente, die tiefer ins Immunsystem eingreifen sehr leicht, wie zum Beispiel eine verstärkte Neigung zu Schnupfen. Schwere Nebenwirkungen sind extrem selten. So selten, dass das Risiko sie zu bekommen, ein guter Preis dafür ist, dass man die irgendwann nahezu sicher auftretende Behinderung, wenn man keine Schubprophylaxe macht, vermeidet.

Und letzten Endes müssen Sie sich immer sagen, dass statistisch gesehen das Risiko, auf dem Weg zum Arzt einen Unfall zu erleiden, viel höher ist als das Risiko schwerer Nebenwirkungen der Schubprophylaxe zu erleiden. Und sie gehen ja trotzdem zum Arzt.

Welche Erfolgsgeschichten können Sie aus ihrem eigenen Patientenkreis teilen, die zeigen, dass es sich lohnen kann, die neuen Medikamente für hochaktive MS zu nehmen?

Mir fällt eine Patientin ein, die eine Schubprophylaxe aufgrund eines zu großen Abfalls der Lymphzellen absetzen musste. Sie wollte es nun erst einmal ohne Medikamente probieren. Nach wenigen Monaten trat ein schwerer Schub auf. Sie konnte auch nach dem Schub nicht mehr richtig laufen und bekam deshalb eine Thrombose, die ihr einen Schlaganfall machte. Wir begannen wieder mit einer Schubprophylaxe, die die Patientin nun seit einigen Jahren problemlos verträgt und unter der sie wieder schubfrei ist. Und das Beste: Sie kann wieder richtig laufen. Ein schönes Beispiel auch dafür, dass keine Therapie viel risikoreicher ist als die Medikamentennebenwirkungen einer Schubprophylaxe.

Wie war der Verlauf bei hochaktiver MS vor zehn oder 20 Jahren und wie schnell nahm der Grad der Behinderung von Patienten früher zu im Vergleich zu heute?

Dies in Zahlen zu fassen ist schwierig, da die MS individuell so unterschiedlich schwer verläuft. Je nach Studie verzögert sich das Auftreten von Behinderungen um mindestens zehn bis fünfzehn Jahre unter einer wirksamen Schubprophylaxe. Viele Patienten bleiben auch über Jahrzehnte ohne bleibende Behinderungen.

Welche Werte müssen unbedingt überwacht werden, damit die Behandlung mit aggressiven Medikamenten in einem sicheren Rahmen abläuft?

Die zu überwachenden Werte sind stark vom Medikament abhängig. Meist sind es die Zahl der Lymphzellen und die Leberwerte. Es gibt Medikamente, bei denen man monatliche Blutkontrollen machen muss, wie zum Beispiel nach Alemtuzumabinfusionen. Andere moderne hochwirksame Medikamente wie Cladribintabletten oder Ocrelizumabinfusionen brauchen nur drei bis vier Blutkontrollen im Jahr. Daran sieht man schon, dass sie auch keine schweren Nebenwirkungen machen.

Aber das Beste an diesen Medikamenten ist ihre seltene Gabe. Ocrelizumab muss man nur halbjährlich infundieren. Cladribin und Alemtuzumab muss überhaupt nur zweimal im Abstand von einem Jahr geben. Dann ist man auch ohne eine Medikamentengabe vor Schüben geschützt und braucht nach einem Jahr (Cladribin) oder 4 Jahren (Alemtuzumab) auch keine Blutkontrollen mehr.

Was machen Sie, wenn die erwähnten lebensbedrohlichen Nebenwirkungen auftreten?

Bei gefährlichen Nebenwirkungen sollten Sie immer in eine große Klinik gehen, denn hier gibt es verschiedene Fachrichtungen, die gemeinsam die Nebenwirkungen behandeln können.

Gibt es trotz der zur Verfügung stehenden Medikamente noch Patienten, bei denen keine der Therapieoptionen anschlägt?

Das bei Patienten mit einer schubförmigen MS keins der Medikamente wirkt, ist eine sehr große Seltenheit. Was die meisten Medikamente allerdings nicht verhindern, sondern nur herauszögern können, ist das Umschlagen der schubförmigen Verlaufsform in eine chronisch progrediente Verlaufsform. Die Schübe werden durch eine Entzündung im Gehirn verursacht und die Medikamente wirken antientzündlich.

Irgendwann erholen sich die Nervenzellen nicht mehr vollständig von der Entzündung und die Fortsätze sterben ab. Dies bemerkt man als eine langsame Verschlechterung der Symptomatik. Gegen dieses Absterben der Nervenfortsätze wirken die antientzündlichen Medikamente nicht mehr. Deshalb ist eine frühe und konsequente Behandlung mit den antientzündlichen schubprophylaktischen Medikamenten wichtig, um das Absterben der Nervenfortsätze zu verhindern. Es gibt zwar erste Medikamente, die dann auch noch wirken, aber deren Wirkung ist leider noch unvollständig.

Welche zukünftige Entwicklung wünschen Sie sich für die Behandlung von MS-Patienten?

Wie ich schon erwähnte, ist die Therapie der chronisch progredienten Verlaufsform, bei der sich die Symptome langsam verschlechtern, bisher noch nicht sehr erfolgreich behandelbar. Hier wäre eine Entwicklung von wirksamen Medikamenten super.

Verabschiedung

Möchten Sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Führen Sie eine wirksame medikamentöse Schubprophylaxe durch. Nicht medikamentöse Maßnahmen wie eine gesunde Ernährung oder Vitamin D können den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen, aber alleine nie das Fortschreiten der Erkrankung wirksam verhindern. Sie werden sich später ärgern, wenn Sie die Erkrankung am Beginn nicht konsequent behandelt haben, und die Ärzte nichts mehr machen können. Wir können die MS noch nicht heilen, sondern nur das weitere Voranschreiten der Erkrankung verhindern.

Wie erreicht man das Klinikum Jena?

Das Klinikum Jena ist verkehrsgünstig direkt an der Autobahn A4 gelegen. Auch die Straßenbahn fährt vom Paradiesbahnhof direkt vor das Klinikum.

Das MS Zentrum Jena besteht aus einer Ambulanz, einer Tagesklinik und einem stationären Teil:

Terminvergabe:

  • Ambulante Termine unter +49 3641 – 9 323 548
  • Stationäre oder tagesklinische Termine unter +49 3641 – 9 323 586

Sprechzeiten MS-Ambulanz:

  • dienstags und donnerstags 13-15 Uhr; freitags 09:30-11:30 Uhr
  • Termine: 03641 – 9 3234 50 (Mo-Fr 8-14 Uhr)

Sprechzeiten MS-Tagesklinik:

  • Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 8 – 16 Uhr
  • Anmeldung: 03641 – 9 323 470 / 03641 – 9 323 473

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Vielen Dank für das geführte Interview an Prof. Dr. Schwab!

Bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele

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Hier findest du eine Übersicht zu allen bisher veröffentlichten Podcastfolgen.

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