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#200: Multiple Sklerose Behandlung im Jahr 2030. Interview mit Prof. Tjalf Ziemssen

Ich begrüße erneut Prof. Dr. Tjalf Ziemssen als Interviewgast mit dem ich mich diesmal über die MS-Behandlung im Jahr 2030 unterhalte. Was wird sich bis dahin ändern? Welche Untersuchungsmethoden werden Eingang in die Standardversorgung erhalten und für eine individualisierte Therapie sorgen und Entscheidungen evidenzbasierter unterstützten? Wie kann künstliche Intelligenz dabei helfen, die Quality Time von Patient und Arzt zu erhöhen? Welche neuen Behandlungsoptionen stehen für Menschen in der progredienten Phase in den Startlöchern? Wie kann Telemedizin in Zukunft Einsatz sinnvoll eingesetzt werden? Wo liegen die Chancen und Grenzen von Wearable beim besseren Überwachen der Multiplen Sklerose, um bei Bedarf schnell auf eine Verschlechterung der Krankheit zu reagieren.

Das alles und noch mehr besprechen wir in Folge 200 vom Podcast und dazugehörigen Transkript in Schriftform.

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Inhaltsverzeichnis

Nele Handwerker: Hallo Tjalf, ich freue mich riesig, dass du da bist und uns einen Einblick gibst in die MS-Behandlung im Jahr 2030, also von heute sieben Jahre, aber erst einmal ein ganz liebes Hallo.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, vielen Dank, für mich ist das natürlich eine ganz besondere Ehre, wieder bei den runden Zahlen dabei zu sein, dass ich zur zweihundertsten Folge des Podcasts dabei sein kann.

Nele Handwerker: Ja, genau. Du bekommst immer auch besondere Folgen. Da wimmele ich auch andere ab. Das ist auch in Ordnung.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ich kann mir sonst auch nur noch Hunderterzahlen merken. Also in meinem Alter geht das auch nicht anders.

Nele Handwerker: Genau, da komme ich dir entgegen. Sehr schön, genau. Aber bevor wir in die Zukunft schauen, würde ich ganz gerne kurz erst mal einordnen, wo wir eigentlich heute mit der Behandlung stehen.

Multiple Sklerose Behandlung heutzutage

Wie schnell erfolgt heutzutage die korrekte Diagnose der Multiplen Sklerose und welche Möglichkeiten die Krankheit zu behandeln, gibt es aktuell?

Foto von Prof. Dr. Tjalf Ziemssen, Neurologe und Leiter des Zentrums für klinische Neurowissenschaften und vom MS-Zentrum Dresden, Universitätsklinikum Carl Gustanv Carus

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, das ist natürlich eigentlich schon eine Frage, die schon einen ganzen Podcast bestreiten könnte, weil natürlich die aktuelle Situation, gerade wenn man sich das in Deutschland anschaut, sehr stark variiert. Und ich glaube, das weiß jeder, auch der zuhört, je nachdem, in welchem Setting es dazu kommt, wann man den Neurologen kontaktieren kann im Rahmen der Erkrankung, der dann schlussendlich die Diagnose stellt, das kann ein längerer und ein kürzerer Weg sein.

Also wir sehen schon, dass das im Mittel kürzer wird, die Zeit, die die Diagnose gestellt wird, aber grundsätzlich sehen wir schon signifikante Defizite und die Verknappung oder die geringere Zahl an Neurologen, die dann vielleicht neue Patienten nimmt, andere Schwierigkeiten, überfüllte Krankenhäuser, tun natürlich nicht gerade gut, die Diagnose früh zu diagnostizieren. Ich glaube aber, was sich in den letzten Jahren da getan hat, ist, dass Hausärzte, glaube ich, besser Bescheid wissen und im Zweifelsfall an die Erkrankung denken und dann schon mal ein MRT veranlassen, was schon mal das Wichtigste ist, was dann ja auch die Grundlage ist, dann zum Neurologen zu gehen.

Aber ich glaube schon – wir haben jetzt auch gerade wieder eine Befragung durchgeführt – wo wir gesagt haben, also jeder Patient sollte möglichst in einem Monat die Diagnose bekommen, wenn er sich mit Symptomen vorstellt. Und die meisten der Neurologen, die wir dort befragt haben, haben gesagt, in Realität findet das nicht statt, sondern es dauert viel, viel länger zum Teil. Und das ist ein Problem, dass das immer noch zu lange dauert und dass Wege dort immer noch nicht optimal sind.

Es ist natürlich auch eine schwierige Erkrankung, weil die sich mit sehr vielen unterschiedlichen Zeichen äußern kann, aber ich glaube, das ist ein ewiger Kampf gegen die Windmühlen. Bei Hausärzten, bei Patienten, bei Neurologen dafür zu kämpfen, dass sich die Situation bessert. Aber das spielt eine ganz wichtige Rolle, weil wir, weil die Anzahl der Möglichkeiten, die Krankheit zu behandeln, immer weiter steigt und dort natürlich auch die Möglichkeiten, Patienten einzuschätzen, festzustellen, ob zum Beispiel eine aktivere Therapie oder erst mal eine Standardtherapie starten kann, und da ist es sehr wichtig.

Ich glaube, was alle Therapien mit sich bringen, dass die vor allem dann Sinn machen, wenn man früh die Erkrankung diagnostiziert, weil wenn wir später noch an unsere Hoffnungen kommen, inwiefern wir regenerative Therapien einsetzen können, aber im Moment können die Therapien, die wir haben, Krankheitsprozesse stoppen. Und da ist natürlich wichtig, die Krankheitsprozesse möglichst früh zu stoppen und wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, sprich: schon sehr viele Nervenzellen schon untergegangen, signifikante Defizite da sind, dann sind unsere therapeutischen Möglichkeiten, die wir im Moment haben, sehr beschränkt.

Sie können das dann auf dem Status halten, aber das ist natürlich nicht das, was wir uns vorstellen, auch um ein normales L zu führen. Das heißt, die Kunst besteht praktisch heutzutage darin, frühzeitig zu diagnostizieren und dann auch passend zu therapieren. Da spielt es natürlich auch eine Rolle, wenn ich mich einmal nach einer Diagnose für eine Therapie entschieden habe, dass ich mir genau anschaue, ob der Patient gut unter dieser Therapie läuft.

Und das ist einfach so eine Sache, wo wir einfach in Richtung Zukunft auch strikter sein und uns das genauer anschauen müssen, ob die Therapie auch die geeignete für die Patienten ist, weil wir haben mehr und mehr Therapien, und da, glaube ich, müssen wir dann auch keine Kompromisse eingehen bei bestimmten Therapien, wenn wir sehen, dass unter der Therapie nicht alles optimal läuft.

Wie groß ist der prozentuale Anteil an MS-Patienten ungefähr, der dank der bisherigen Erkenntnisse zum Lebenswandel und mithilfe verlaufsmodifizierender und symptomatischer Therapien ein weitestgehend normales Leben führen kann?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, das ist natürlich eine schwierige Frage, weil das sehr davon abhängt, was deine Patientenschar oder welche Patienten sich in der Sprechstunde befinden. Viele schwer betroffene Patienten, die zum Beispiel in Altersheimen sind, die haben keine Chance mehr, oder wenn kein Fahrdienst da ist, sich einem MS-spezialisierten Neurologen vorzustellen. Da macht das dort der Hausarzt im Heimbesuch mit. Manche versuchen, dass jetzt immer mehr zu machen, dass wir diese Patienten auch sehen, dass wir versuchen, mit Fahrdiensten auch zu uns in die Sprechstunde zu kommen.

Auf der anderen Seite spielt es natürlich auch eine Rolle, dass viele Patienten natürlich zu Beginn der Erkrankung – und dass wir … dass es denen sehr gut geht, und dass auch viele Patienten, die man frühzeitig diagnostiziert – auch das muss man sagen – schon so eine Erkrankung haben, dass sich daraus jetzt nicht weitere schlimme Schübe entwickeln. Also, es gibt schon eine Erkrankung, wo ich das diagnostiziere oder den Verdacht stelle, aber sich zum Glück keine schwergradige MS manifestiert.

Also es ist sicherlich, diese Patienten, denen es gut geht, es ist sicher ein Gemisch von einer besseren Prognose plus einem Therapieeffekt, aber ich würde mal sagen, bislang war es ja so, dass Patienten, dass ungefähr 50 % der Patienten stark gehbehindert waren, nach 20 Jahren, das war die Situation, wenn man ja nur klinisch diagnostiziert, das heißt sehr spät, nicht mit Hilfe des MRT, was eine frühere Diagnose erlaubt.
Und zum Zweiten, wenn ich auch keine Therapie gebe, und da denke ich schon, dass wir deutliche, ein deutliches Nach-hinten-Schi sehen. Dass wir da schon diese Zahl sicherlich halbieren können oder auch die Zahl, auch bei Patienten, die dann im Rollstuhl landen, dass man es heutzutage mit Interventionen schon schafft, die Zeit um sieben, acht, neun Jahre nach hinten zu schieben und das ist natürlich für die Patienten auch natürlich eine Lebensqualität, wenn ich den Rollstuhl, also die starke Einschränkung der Gehfähigkeit, nach hinten verschieben kann.

Also so, dass wir sicherlich nicht für jeden Patienten momentan anbieten können, die Krankheitsaktivität aufzuhalten, und das dann auch natürlich für die ganze Zeit, die wir dann überblicken. Das ist ja dann auch immer schwierig. MS-Patienten werden jung diagnostiziert. Da müsste man dann ja auch wirklich Aussagen über die nächsten 50 bis 60 Jahre treffen, um das vorauszusagen. Das ist sehr schwierig, auch weil Neurologen nicht so lange l, und die Datenerfassung auch noch nicht so ist. Aber grundsätzlich muss man sagen, dass man doch einen beträchtlichen Teil der Patienten, gerade wenn man Therapiekonzepte am Anfang startet, man doch positiv beeinflussen kann.

Was ohne Therapien und ohne natürlich den Kampf von Seiten des Patienten, das bezieht Lifestyle, körperliche Aktivität mit ein. Also das volle Paket, dass ich sowohl die therapeutischen Möglichkeiten, die von der Pharmakotherapie geboten werden, also auch das Training, der Kampf, und dann auch gesunde Ernährung, kein Nikotin, regelmäßige körperliche Aktivität. Das ist ja das Gesamtpaket. Und wenn ich das schnüre, dann haben schon viele Patienten die Möglichkeit, damit ein normales L und auch eine normale Berufsfähigkeit und Berufstätigkeit in ihrem L durchzuführen.

Wo siehst du die größten Probleme in der Behandlung der MS, die es in Zukunft zu lösen gilt?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Na ja, ich sehe schon so, dass nicht alle Patienten profitieren von den Fortschritten, die wir haben. Es ist okay, wenn Patienten sich bewusst entscheiden, dass sie sozusagen sagen: Ich möchte keine Diagnostik, ich möchte kein Monitoring, ich möchte auch keine Pharmakotherapie, ja, auch natürlich unter den Bedingungen, wenn man ihnen klar deutlich macht, was das bedeutet, auf was man verzichtet.
Was ich schlimm finde, sind Patienten, die das nicht bewusst ablehnen, aber diese Möglichkeiten nicht haben. Wenn wir schauen, wir haben Krankenkassendaten angeschaut, wo wir sehen, dass doch ein größerer Anteil von Patienten keine regelmäßigen MRT-Untersuchungen bekommen. Das ist für mich nicht nachvollziehbar, ja, also das ist unser wichtigstes Tool, um zu sehen, was an Krankheitsaktivität im Gehirn nachweisbar ist.

Und wenn ein Drittel der Patienten keine regelmäßigen MRTs bekommen, dann verzichten wir auf die stärkste Waffe, die wir haben, um in den Kopf hineinzuschauen. Um zu sehen, was dort an Entzündungsherden entsteht. Und das ist schon okay, wenn ich mich als Patient bewusst dafür entscheide, dass ich das nicht möchte, aber ich glaube nicht, dass dreißig Prozent der Patienten sich wirklich bewusst entscheiden, dass sie kein MRT bekommen möchten.

Und deshalb muss der Nele-Handwerker-Podcast noch mehr durchdiffundieren, zur Zwangslektüre verpflichtet werden für alle MS-Patienten, dass man dieses Wissen, auch die Innovation, dass die wirklich gefordert wird. Das ist mir auch sehr wichtig, wenn wir in die Zukunft schauen, dass ich auch als Patient wirklich Dinge einfordere. Also wenn ich merke, ich kriege kein regelmäßiges MRT, das MRT wird an unterschiedlichen Standorten gemacht, was bedeutet, dass ich die MRTs nicht miteinander vergleichen kann. Wenn ich merke, mein Neurologe führt überhaupt keine funktionellen Untersuchungen durch, ja, dass man sagen muss, ich muss mir eine bessere Verlaufskontrolle einfordern, weil das ist notwendig, um wirklich meine Erkrankung beurteilen zu können.

Zum Teil fahren ich für meine Hobbys kilometerweit und setze sehr viel Geld ein, aber um spezialisiert für die MS behandelt zu werden, das will ich dann beim Dorfhausarzt. Und das geht nicht. Und da ist es schon wichtig, was ich auch als wichtige Botschaft mitgeben möchte, dass mir als Patient klar sein muss, dass ich mir wirklich ein spezialisiertes Zentrum aussuche. Ich meine, wir haben jetzt in der MS noch keine guten Daten dafür, aber wir sehen, dass zum Beispiel in der Krebstherapie – da haben unsere Kollegen vom Krebszentrum bei uns in Dresden, vom NCT Daten erhoben, dass ich wirklich länger lebe, wenn ich in einem spezialisierten Zentrum behandelt werde, als das der Fall ist, wenn ich in einem kleinen Krankenhaus, die auch keine Erfahrung mit den Tumoren, die keine Tumorboards, die keine interdisziplinäre Betreuung haben.
Das ist bei der MS auch so. Wir müssen in die Richtung kommen, jetzt auch durch Podcasts, durch Initiativen, ja auch von Patienten, dass Patienten sich miteinander austauschen, dass wirklich mehr Qualität gefordert wird. Und das natürlich in der Zeit, wo immer mehr gespart wird, wo die Arztkontaktzeiten immer kürzer werden, weil da die Vergütung immer schlechter wird und auch natürlich die Krankenkassen wahrscheinlich sparsamer werden, weil immer weniger Geld da ist.

Also, da muss man gerade in solchen Zeiten sehr darauf hinweisen, dass eine gute Versorgung da ist, und das ist, glaube ich, auch für die Zukunft, dass wir diesen Gradienten, den wir haben, dass da vor allem in der Zukunft geschehen muss, dass Dinge, die an Zentren schon umgesetzt werden, dass die wirklich auch in die Breite kommen. Oder dass die Patienten, die in der Breite nicht gut versorgt werden, dann an die Zentren kommen. Also, wir haben die Möglichkeiten und das finde ich das Schreckliche. Es ist nicht so dass wir – dass uns die Mittel und Möglichkeiten fehlen, sondern sie sind da, aber sie werden nicht genutzt. Und das finde ich immer das Traurige. Also, wenn man im Prinzip was machen könnte, aber dann die Ressource nicht zum Patienten kommt.

Nele Handwerker: Genau. Sei es aus Unwissenheit, sei es aus…

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Weißt du, wenn es der Patient bewusst macht, dann ist das okay. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Patienten das bewusst machen oder dass allen Patienten auch klar ist, was das bedeutet, wie sich ihr Lebensstandard ändert, wenn der Kollege sagt: ja, es gibt eigentlich nur eine Therapie, die Sie nehmen sollen. Und das sagt er natürlich, um Zeit zu sparen. Ja, also wenn ich dem Patienten sage, wir haben jetzt hier zehn Therapien und da gibt es die oder die, weißt du ja selbst: Die nachfolgenden Sendungen verschieben sich alle um eine halbe Stunde. Aber eigentlich ist es wichtig, dass ich diese Aufklärungsarbeit leiste. Ich meine, du machst viel mit dem Podcast, dass man da die Backgroundinformationen geben kann, aber eigentlich ist die notwendig, damit ich als Patient bewusst meine Entscheidung fällen kann.

Nele Handwerker: Ja, und es gibt da ja immer mehr Initiativen, da ist mein Podcast ja nur einer. Ihr macht so Sachen und verschiedene Ärzteinitiativen, ja. Da gibt es eine ganze Menge, genau. Kommen wir mal zum Blick in die Zukunft.

Multiple Sklerose Behandlung im Jahr 2030

Welche wichtigen Biomarker werden MS-Spezialisten voraussichtlich in 2030 standardmäßig zur Verfügung stehen, um MS zu diagnostizieren und den Behandlungserfolg zu überwachen?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Genau, also es wird sicherlich dazu kommen, dass das MRT weiterhin eine Säule bleibt in der Diagnose und auch im Monitoring, aber dass es so sein sollte, wie es bei uns auch schon ist, dass standardisierte möglich 3D Bildgebung durchgeführt werden, ich weiß ja, du hast ja bald Mike Wattjes da, Neuroradiologe aus Hannover, der das ja auch in der Magnims prägt und da diese Standardisierung und die hohe Qualität der MRTs propagiert. Das ist sehr wichtig, dass die Information, die in einem MRT drin steckt, auch genutzt wird.

Das ist für die Diagnostik wichtig. Es ist zum Beispiel so, wenn ich ein MRT habe, mit dem ich so hoch auflösend darstelle, dass ein Entzündungsherd, den ich sehe, dass der direkt, dass in diesem Entzündungsherd eine Vene liegt, weil typischerweise ist diese Vene ja, also das Gefäß, die Struktur, wo die Entzündungszellen herauswandern, dann ist das extrem spezifisch für MS und dann ist das kein Schlaganfall oder irgendwas. Also das heißt, wenn ich diese Details sehe in einem guten MRT, dann bin ich diagnostisch schon sehr fein raus, weil ich dann sehr spezifisch sagen kann: Das ist Multiple Sklerose.

Und so ist es natürlich auch im Verlauf. Da spielt dann auch eine Rolle, dass ich nicht nur Läsionen zähle, wie das viele jetzt schon tun, sondern dass ich mir auch das Gehirnvolumen anschaue. Also wir alle sind ja auf dem absteigenden Ast seit dem 16. Lebensjahr, wir alle verlieren im Mittel 0,3 %, vielleicht der Sachse ein bisschen mehr, weil er sich so ultimativ gesund ernährt, weiß ich nicht, ich kenne da keine Daten. Aber wir verlieren ungefähr einen Espressolöffel Gehirngewebe, das ist die normale Volumenabnahme, die ich altersbedingt zeige, aber wenn natürlich durch Entzündung etwas kaputt geht, dann kann das durchaus ein Teelöffel oder ein Esslöffel sein.

Und das ist natürlich eine Sache, wenn ich sehe, ich habe so einen massiven Verlust, Gehirnvolumenverlust, dann würde ich natürlich auch intervenieren. Dann muss ich mir anschauen, ist die Therapie optimal? Und das steckt eigentlich in den MRTs drin, das wird bei uns schon standardmäßig erhoben, aber im Regelfall nicht. Und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Sache. Dass man solche Innovationen einer bestehenden Diagnostik oder Monitoringmaßnahme, dass ich die einführe.

Das zweite, was kommen wird, dass zusätzlich auch Blutmarker eine Rolle spielen, das Neurofilament, also ein Faktor, der durch die von den zerstörten Nervenfasern freigesetzt wird, den man im Liquor, aber auch im Blut messen kann. Da arbeiten jetzt schon große Laborhersteller wie Siemens, wie Roche daran, dass das dann in die breite Verwendung kommt. Bei uns wird das ja immer noch im Rahmen der Forschung getan. Aber es wird ein Standardmarker werden, der in die Praxis kommen wird, wo ich neben dem MRT auch einen Blutmarker haben werde, der mir sagt, wie viel Nervenzellen gehen kaputt.

Und das Spannende ist, dass es nicht nur einen Marker geben wird, wie das dargestellte Neurofilament, sondern es wird für verschiedene Zellen im Gehirn, es wird dann für die Astrozyten, also für die Stützzellen wird es Marker geben. Es wird für die mikrogliaden Zellen Marker geben.

Ich war letzte Woche in Halle, dort haben die Kollegen einen Marker, der bislang nur im Gehirnwasser messbar ist, aber hoffentlich bald auch mal im Blut messbar ist, der kann zum Beispiel die Synapsenfunktion darstellen. Das heißt, die Synapsen sind ja die Strukturen, wo Informationen von einer Nervenzelle zur anderen weitergegeben werden und dieser Nervenzell-Kaffeeklatsch, wie ich das immer nenne, spielt natürlich eine ganz wichtige Rolle. Denn jede Nervenzelle ist mit tausend anderen Nervenzellen verbunden, durch Synapsen, und je weniger Synapsen ich habe, desto weniger gut funktioniert das. Und da ist natürlich toll, wenn man dafür Marker haben wird.

Also, Bildgebung und Blutmarker werden uns Krankheitsaktivität darstellen können und werden hoffentlich auch dazu beitragen, nicht nur die akute Entzündung darstellen zu können, sondern uns auch helfen – und das ist ja die Hauptherausforderung, die sich ja auch für uns klinisch stellt – die Progression, die unabhängig von der akuten Inflammation ist, die PIRA, Progression Independent of Relapse Aktivity, wo ich keinen Schub habe, wo ich nicht im MRT was sehe, wo trotzdem der Patient schlechter wird, dass ich mich da annähern kann.

Und im Moment, mit klassischen Verfahren, ich sehe keinen Schub, ich sehe keine neue Läsion, da ich auch nicht Hirnvolumen messe, kann ich dazu nichts sagen. Es ist da sehr schwierig, diese Patienten zu identifizieren und wir müssen vor allem daran arbeiten, natürlich diese Progression auch darstellen zu können. Das können wir aber nicht nur durch Bildgebung und durch Biomarker, sondern wir müssen auch daran arbeiten, dass wir Marker haben, um Patientenfunktionen zu beschreiben.

Und da ist natürlich das Problem, dass wir bei digitalen Markern diese auch kontinuierlich messen. Also da ist sicherlich die alle drei Monate erfolgende Vorstellung beim Arzt nicht genug, weil wenn ich da mal einen schlechten Tag habe, dann ist das nicht repräsentativ. Ja da müssen wir sicherlich die vielgestaltigen Symptome – das sollten aber auch nicht nur die Gehfähigkeit sein, sondern es können sehr unterschiedliche Funktionen sein, dass ich da Tools entwickle, die das darstellen können und mir dann Ausschläge zeigen können, wenn ein Patient droht, sich zu verschlechtern, dass ich das dann gleich auch für eine Intervention messen kann.

Also zum einen Krankheitsprozessmessung, die wird besser werden und zum anderen wird aber auch die Patientenseite empfindlicher und hoffentlich auch spezifischer werden, dass ich die unterschiedlichen Defizite, die bei der MS auftreten können, dass ich die bestimmen und quantifizieren kann.

Nele Handwerker: Genau, dann kann ich Gegenmaßnahmen ergreifen. Und da fällt mir auch ein, was ich diese Woche noch machen muss.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Zu erledigen, genau.

Nele Handwerker: Im Urlaub, da lasse ich es ein bisschen schleifen.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Genau, dabei müsstest du jetzt eigentlich deutlich bessere Funktionen haben.

Nele Handwerker: Wahrscheinlich.

Welche Fortschritte wird es bei der Behandlung der progredienten Verläufe, sprich zum Aufhalten der Neurodegeneration geben?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Genau, also spannend ist dort sicherlich, da wir da ja neue Therapietargets haben, wir haben große Zulassungsstudien, die uns hoffentlich dann schon Ende nächsten Jahres oder Ende dieses Jahres, Mitte nächsten Jahres -, die unterschiedlichen Präparate kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten – die Bruton-Tyrosinkinase, die ja nicht nur eine Wirksamkeit auf B-Zellen hat, die wir aus den Antikörper-Therapien schon kennen, sondern auch auf die Mikrogliazellen, also auch die Fresszellen im Gehirn hat, die ganz wichtige Funktionen haben bei der Progredienten MS und da werden wir sehen, ob so ein neues Target uns helfen kann, speziell die progrediente MS anzugehen.

Aber parallel gibt es ja sehr viele Untersuchungen. Zum Beispiel hat man ja vielleicht im Netz mitbekommen, die Kollegen im Vereinigten Königreich haben die Oktopusstudie, also eine Studie mit unterschiedlichen Armen, wo schon bekannte und zugelassene Medikamente eingesetzt werden, die bisher für andere Zwecke verwendet wurden. Und ich glaube, das ist eine Entwicklung, die wir sehen, wo sehr viel Entwicklung und Fokus auf den progredienten Verlauf geht, dass man das versteht. Und das ist, glaube ich, sehr wichtig, dass sich da von ersten Untersuchungen, die ich mache, bis hin zu Zulassungsstudien, die jetzt für die BTKIs schon laufen, dass ich da auch Aussagen treffen kann, wie ich den Krankheitsverlauf beeinflussen kann.

Aber da erkennen wir auch, dass wieder Dinge ineinandergreifen, was ich auch schon gesagt habe, um natürlich nachzuweisen, dass Therapien dort wirken, brauchen wir natürlich erst einmal auch Outcome-Messungen, die uns zeigen, wie diese Medikamente wirken. Weil das Fatale wäre ja, wir hätten Medikamente, die dort wirken und ich kann es einfach nicht zeigen, weil ich die Progression nicht messen kann.

Monitoring und Therapie müssen immer Hand in Hand gehen, weil wenn ich mit schlechten Monitoring-Verfahren, also nur den EDSS, der natürlich bei bestimmten Bereichen nicht mehr so empfindlich ist. Also wenn ich einmal beispielsweise gehbehindert bin, wenn ich nur noch zwanzig Meter gehen kann bis zum Punkt, wo ich wirklich kontinuierlich im Rollstuhl sitze, das ist eine Riesenentwicklung, die da ist, aber sie macht nur 0,5 Punkte im EDSS aus. Das ist nicht empfindlich genug, glaube ich, um diesen Prozess abzubilden.

Nele Handwerker: Ja, absolut. Und das wäre ja auch schade, wenn man Medikamente vielleicht verwirft, weil man nicht festgestellt hat, dass sie doch was bringen. Das ist ja auch traurig.

Wie genau wird man mithilfe einer virtuellen Vergleichsperson, den Verlauf von MS-Patienten voraussagen können und wie wird diese Voraussage Einfluss auf Untersuchungen und Behandlungen haben?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Also grundsätzlich glaube ich, ist es immer so, dass die letztendliche Therapieentscheidung natürlich immer beim Patienten liegen wird. Der Arzt ist dafür da, dass er den Patienten berät in der Situation. Und da ist natürlich gut, finde ich, wenn ich als Arzt Dinge an der Hand habe, wo ich mit mehr Evidenz und nicht nur mit neurologischem Bauchgefühl dem Patienten sagen kann, wir sollten das machen.

Ich kann natürlich sehr gut sagen: Also bei Ihnen da habe ich ein ganz schlechtes Gefühl, da gehen wir mal lieber auf die Therapie, also ich meine, für manche Patienten, die vielleicht eher so ein bisschen esoterisch angehaucht sind, vielleicht kommt das da auch ganz gut an, aber für die sachliche Frau Handwerker, die mir gegenüber sitzt, die Argumente haben will, wenn ich da sage: Mein Bauch sagt jetzt gerade … nicht gut.
Die wird sagen, nee, ich will Butter bei die Fische, ich will Argumente haben. Wenn ich hingegen sagen kann, was eine virtuelle Vergleichsperson, ein digitaler Zwilling der ja bedeutet, dass man schaut, 200, 300, 400 Patienten, die genau den gleichen Phänotyp haben, die die genau gleiche Krankheitsausprägung haben, was haben die gemacht und wie war dann deren Outcome?

Das hört sich jetzt extrem mathematisch an, aber eigentlich ist es ja so, was wir im normalen Alltag auch machen. Da schauen wir bei der Nachbarin, was hat die gemacht und was mache ich dann? Also, man vergleicht ja und man möchte ja auch aus Erfahrung lernen. Ich finde immer schrecklich, und ich glaube, dir geht es da auch so, wenn du da liest: Ich habe die skurrile Sache gemacht und ich war geheilt. Das sind immer so diese Heilsbotschaften, meist geht es ja auch um kommerzielle Dinge, ich habe das gemacht und dann ging es mir supergut und macht das doch auch. Und das wollen wir nicht.

Ich kann nicht allein aus einem Einzelschicksal sagen, bei Oma Trude hat das auch geholfen, deshalb Nele, mach das auch. Sondern ich muss wirklich da wissenschaftlich sauber sein und da muss ich natürlich Patienten haben, die den gleichen Status haben wie du. Und das kann man dadurch, ja weil ich dir natürlich nicht jeden einzelnen Patienten zeigen kann und das auch nicht geht, datenschutzrechtlich, da fasse ich die zusammen und habe ich eine große Gruppe von Patienten und kann dann jeweils die heraussuchen, die dann in der Situation zu dir passen.

Und ich glaube schon, wenn ich dir zum Beispiel zeigen würde, dass 200 Patienten in der Situation, dass die, wenn sie die Therapie nicht nehmen würden, die ich vorschlage, dass sie eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, dass sie in zehn Jahren gehbehindert sind. Ich glaube, dass es schon ein valides Argument ist, um dann zu einer Therapieentscheidung zu kommen. Schlicht, es wird nie dazu führen, dass der Patient bevormundet wird, es gibt ja genug Patienten, die sagen, ich möchte auch gar keine Therapie und so. Aber es bringt Evidenz in die Therapieentscheidung herein und ich glaube, das tut not. Dass ich wirklich auch sagen kann, ja, also ich entscheide mich dafür, weil… Und je mehr wir mit dem “weil” kommen, glaube ich, desto einfacher ist es für den Patienten, die Entscheidung mitzutragen.

Nele Handwerker: Ja, absolut, Argumenten gegenüber bin ich zugänglich, Bauchgefühl hmmm….. nicht so sehr.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, ja, denn es ist wichtig, und das kann man dadurch, dass man Daten sammelt und gut charakterisiert. Also ich muss die Daten sammeln, aber muss natürlich auch eine gute Charakteristik von den Patienten darstellen, denn wenn ich nur Daten sammle, und das sind nicht hochqualitative Daten, dann bringt es auch nichts.

Nele Handwerker: Ja, das frage ich mich jetzt manchmal, wenn ich irgendwelche Studienergebnisse sehe, okay. Wie vergleichbar waren die denn, waren die auch in meinem Alter, hatten die ungefähr vor der gleichen Zeit die Diagnose, sind die auch – keine Ahnung – im Ernährungsbereich, also was auch immer. Je ähnlicher sie mir sind, desto überzeugender ist es für mich, den ähnlichen Weg zu gehen.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Und das große Problem ist da, wenn du dir die klassischen Zulassungsstudien anschaust, aufgrund derer Medikamente zugelassen werden, da sind natürlich Riesengruppen von Patienten, auch Riesenspektren von Patienten drin, und da ist es natürlich so, dass da ein Gruppeneffekt positive ….. also wenn das Medikament zugelassen wird, muss die Gruppe mit Medikament besser sein, als die Gruppe ohne Medikament oder mit Vergleichsmedikament, aber das Problem ist natürlich dann, dass das natürlich, dass den einzelnen Patienten natürlich nicht die Gruppe interessiert, sondern den einzelnen Patienten interessiert natürlich, ob er selbst profitiert, und das schaut man sich natürlich in den großen Gruppen nicht an.

Nele Handwerker: Ja, ja, genau. Kommen wir mal zu dem Thema Demyelinisierung.

Wie wahrscheinlich wird man in 2030 demyelinisierte Bereiche im Gehirn wieder remyelinisieren können, um dadurch bestehende Einschränkungen zu lindern oder gar ganz zu beheben?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Na, es ist sicherlich so, dass man an dem immunologischen Stopp arbeiten wird, dass man regenerative Mechanismen detektiert. Problem ist, dass im Vergleich zu dem immunologischen Stopp der eigentlich relativ gut verstanden ist und der auch relativ gut vertragen wird, dass das Eingreifen in solche Prozesse wie Stammzellen, die dann mehr oder weniger zu remyelinisieren, dann Oligodendrozyten, also den Isolationszellen sich entwickeln müssen, dass das natürlich auch immer ein Spiel mit dem Feuer ist. Also immer dann, wenn wir über Regeneration sprechen, bedeutet das natürlich auch, dass wir grundsätzlich froh sind, dass unser Gehirn nicht so gut regeneriert, weil wenn unser Gehirn so regenerieren würde, wie die Leber, hätten wir viel mehr Gehirntumore. Und ein Tumor im Gehirn ist deutlich problematischer, als wenn eine Darmschleimhaut einen Polypen zeigt, den man abknapsen kann.

Also das ist schwierig. Ich müsste ja erreichen, dass ich an den Stellen, dort wo es notwendig ist, dass ich fokal da Remyelinisierung, also an dem Ort des Geschehens fördere, und das ist natürlich nicht so einfach. Wie soll ich an den Ort kommen? Es gibt ja ganz alte Untersuchungen, wo man Stammzellen in die Läsion gespritzt hat, aber das ist auch nicht so toll. Ich glaube, das wäre auch ein Verfahren, von dem ich dich nicht so überzeugen könnte, mit mehreren Bohrlöchern überall.

Nele Handwerker: Klingt nicht so gut.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Bei Läsionen irgendwelche Stammzellen einspritzen. Ich glaube, es wird eine Rolle spielen, dass ich insbesondere bei frisch entstandenen Läsionen, dass ich mir da Gedanken machen muss, wie kann ich dort Regeneration fördern, wie kann ich da für eine kurze Zeit vielleicht dieses eher unfreundliche Milieu ausschalten. Es ist ja so, dass im Gehirn, in der Gewebesubstanz Faktoren drin sind, die Regeneration hemmen. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass man dadurch Regeneration fördert, indem man diese Hemmfaktoren neutralisiert. Ein Beispiel dafür ist zum Beispiel dieses Eiweiß, das die Zürcher Kollegen gefunden haben, das bei einer Rückenmarktentzündung dazu führt, also wenn das Rückenmark durchtrennt ist, dass die Nervenfasern nicht Aussprossen. Und wenn man einen Antikörper gegen dieses hemmende Eiweiß gibt, führt es zum Beispiel dazu, dass die Nervenfasern doch wieder Aussprossen können.

Oder das Lingo ist ein Faktor, der die Remyelinisierung hemmt und wenn ich dann Anti-lingo, also einen Antikörper dagegen gebe, kann es sein, dass das funktioniert. Das hat klinisch bei progredienten Patienten leider keinen Effekt gebracht, wahrscheinlich weil man die falschen Patienten ausgesucht hat, aber das sind Konzepte, die wir verstehen müssen. Da gibt es einige interessante Targets im Tierexperiment. Allerdings muss man sagen, das dauert wirklich, ja das wird sicherlich die Zeit von zehn Jahren brauchen, bis geeignete Kandidaten aus dem Tierexperiment sich human zeigen und dann muss nachgewiesen werden, dass sie auch wirklich bei MS Linderung verschaffen können.

Also, da ist man unterwegs, da versteht man immer mehr Prozesse und Kaskaden, zum Beispiel, wie man kurzfristig dieses regenerationsunfreundliche Milieu ausschalten kann, und das sind wahrscheinlich Ansätze, die kommen. Dann gibt es die Ansätze, die in den ersten Phase 1 – Studien sind, dass man Stammzellen spritzt, dass man schaut, was haben die für Effekte? Da hat man jetzt sogenannte Phase-1-Studien gemacht, das heißt, man sieht dort, dass die Patienten nicht daran sterben, dass sich keine Tumore entwickeln in der Kurzzeitsicht.

Da gibt es eine rezente italienische Studie, die das zeigt, aber da sind wir natürlich meilenweit entfernt, dass das funktioniert und dass das auch sicher ist, dass auch der Patient davon profitiert.

Nele Handwerker: Okay, ja danke erst mal für diese Einordnung.

Welche Bedeutung wird künstliche Intelligenz spielen, wenn es um Diagnostik und Therapieentscheidungen geht?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Na es ist schon so, dass die Künstliche Intelligenz uns, glaube ich, bei Dingen unterstützen kann, die wir nicht gerne machen. Und ich vergleiche das ja immer sehr gerne mit der Zeit mit der Familie, mit der Family Time. Also ich möchte auch gerne in meinem Alltag, wenn ich die Sprechstunde mache, möchte ich die Quality Time, also die Zeit, mit der ich mit dem Patienten wirklich die relevanten Probleme besprechen kann und nicht irgendwelche „Ich brauch noch einen Überweisungsschein“, „Ich brauch das und das“, also was ja viele Arztgespräche ausmacht, glaube ich.

Ich versuche wirklich immer einen hohen Anteil von Quality Time zu haben,und ich glaube, bei solchen nervigen Dingen kann einem die Künstliche Intelligenz zum Beispiel helfen. Wir basteln zum Beispiel gerade mit einem frei verfügbaren Konkurrenzprodukt vom ChatGPT Bot, wie der uns, wenn wir ein paar Informationen aus einer Krankenakte vorgeben, wie da ein Arztbrief von geschrieben werden kann. Und das sind natürlich Dinge, Arztbriefe schreibt niemand gern. Und wenn einem das System hilft, das vorzuformulieren und dabei weniger Fehler als Assistenzärzte macht. Also ich meine, meine Assistenzärzte und Assistenzärztinnen sind auch gut, aber so im Vergleich zu anderen.

Oder wenn du der Künstlichen Intelligenz den Auftrag gibst, du hast ein Language Model, das dir sagt, sucht mal alle Laborwerte durch – findest du irgendwo eine Leberwerterhöhung? Also das würde bedeuten, du musst erst mal manuell alle Blutwerte durchschauen und der kann das viel schneller und wenn du ihn anlernst für solche Dinge, geht das gut. Ich glaube, dass diese Jobs, dass die Language Modelle oder KI übernehmen kann und das es uns natürlich auch bei der Diagnostik unterstützen kann.

Also, natürlich sieht der Neurologe auch optisch, wenn er oder sie erfahren ist, dass es dem Patienten schlechter geht, aber jetzt zum Beispiel unsere Ganganalyse, wenn wir da diese Information einspeisen und das System lernen lassen, dann kann der mit seinen Sensoren auch erkennen, auch wenn ich kein erfahrener Neurologe bin, dass sich der Gang verschlechtert hat. Im MRT kann der KI-Algorithmus Bilder vergleichen und neue Läsionen sehen. Also, ich denke, dass diagnostisch und bei der Verarbeitung großer Datenmengen und Verlaufsbeobachtung, dass einem das helfen kann.

Und dann kommt noch etwas Weiteres hinzu, dass wir gerade in unserer Darstellungsfähigkeit immer nur eindimensional denken. Also wir können einen Faktor uns anschauen, wie das MRT, was sich verschlechtert, aber wenn parallel noch fünf, sechs andere Dinge passieren, dass ein Biomarker hochgeht, dass es eine neurologische Verschlechterung ist, also diese multidimensionalen Sachen oder Multi Scale, wie wir das bei Artificial Intelligence, bei Künstlicher Intelligenz nennen, das ist schwierig. Und da ist natürlich ein Riesenstellenwert – weißt du, wenn du, du hast Bildgebung, du hast Biomarker, du hast klinische Daten, du hast vielleicht einen riesen-neuen Labormarker, Proteomex.

Also Dinge, die man wirklich neu im Blut bestimmen kann, im Liquor bestimmen kann. Mit Riesendatenmengen. Um all diese Daten evaluieren zu können, in Bezug setzen zu können, das schaffst du als normal denkendes, einfaches menschliches Gehirn nicht mehr. Und da kann die KI helfen, weil sie das in Beziehung setzt, sie kann diese Multidimensionalität dir darstellen und sie kann dir helfen, solche komplexen Daten zu verarbeiten und dir dann einen Verlauf darzustellen, was sonst, glaube ich, sehr eindimensional ist, was wir Menschen schaffen. Und gerade bei der Verarbeitung von komplexen, multidimensionalen Datenwolken, großen Datenmengen – ich glaube, das werden wir der KI überlassen und wir werden dann gemeinsam nach der Auswertung dieser Daten zusammen mit dem Patienten die Konsequenzen besprechen.

Nele Handwerker: Ja, ich finde das auch ganz spannend in der Vorlesung, die wir da hatten zum MRT, wo sozusagen geschaut wird, okay, welche Läsionen sind ein bisschen größer geworden oder wo sind welche.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, das ist ganz wichtig, und das sind Dinge, die in der normalen, einfachen Betrachtung des MRT untergehen.

Nele Handwerker: Ja, genau. Und ich kann ja, wenn ich zur Untersuchung gehe, und mein Arzt ist krank oder im Urlaub, dann sieht der andere Arzt ja auch nicht die Verschlechterung, selbst wenn mein Arzt das sehen würde.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Absolut.

Nele Handwerker: Ja, und die KI könnte es aber feststellen. Ja, ist schon alles spannend und toll.

Besteht die Möglichkeit, dass eine Impfung dabei helfen wird das Fortschreiten von MS zu verhindern?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, wir hoffen immer mehr, wir hoffen immer mehr, dass die EBV-Impfung uns helfen wird, das Ausbrechen der Erkrankung zu vermeiden. Also, das ist, glaube ich, im Moment der stärkste Kandidat ist sicherlich das Epstein-Barr-Virus, aber da gibt es ja schon vielfältige Versuche, da eine Impfung zu machen, die Herpesviren sind garstige Gesellen, die machen jeder so in seine Richtung ihre Probleme bei den Blutspendern und den Immunsupprimierten ist es CMV, bei uns ist es initial EBV, aber viele Patienten haben ja auch im Laufe ihrer MS, durchaus durch unsere Therapien getriggert, dass der Zoster kommt, das Simplex kommt, also mit Herpesviren stehen wir auf einem Kriegsfuß.

Sind auch Viren, die so in unserem Körper leben und ich glaube das, worauf wir alle warten – natürlich Gavin Giovannoni am meisten – ist natürlich, dass wir eine EBV-Impfung haben und dass ist Moment, glaube ich, dasjenige, was das vielversprechendste Target ist. Ansonsten ist ja immer das Problem – natürlich kannst du mit einer Impfung auch immer erreichen, das Gegenteil von dem, was du mit der Impfung willst.

Du kannst mit der Impfung natürlich auch versuchen, das Immunsystem abzuschwächen gegen etwas. Also bei der MS würden wir uns ja nicht wünschen, dass wir das Immunsystem scharf machen gegen eine Struktur, sondern wir würden uns wünschen, das abzuschwächen. Das ist aber immer ein Spiel mit dem Feuer. Da gab es schon 2000 zwei Nature-Arbeiten, wo man versucht hat, mithilfe eines – ja, das war keine richtige Impfung, aber das war ein Ansatz, wo man Bruchstücke von Eiweißen gegeben hat, sogenannte Peptide, APL hat man das genannt, also Altered Peptide Ligand, das waren also ähnliche, aber etwas veränderte Eiweiße, Eiweißbruchstücke, die dem Gehirneiweiß, dem MBP ähneln und da hat man gesehen, in einer Studie hat es funktioniert, in einer anderen Studie haben dann die Patienten, die diese Peptide gekriegt haben, viel stärkere Krankheitsaktivität gehabt.

Also, das Problem ist, wenn ich anfange damit, ist es auch immer ein Spiel mit dem Feuer, weil es nicht gewährleistet ist, dass ich wirklich die Krankheitsaktivität runterfahren kann. Und deshalb sehe ich im Moment an Modulationsmechanismen vor allem als Topkandidaten das EBV zur Prävention der MS.

Nele Handwerker: Ja, genau, wer da noch mal reinhören will, kann gerne auch noch mal in die Folge mit Henri-Jacques Delecluse reinhören vom Deutschen Krebsforschungszentrum, der hat auch ein bisschen erläutert, wie komplex das bei EBV ist und was das für eine Herausforderung ist, aber, ja, es wird immerhin schon lange daran geforscht, vielleicht….

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, ich habe jetzt diese Woche wieder eine Erstdiagnose gehabt bei einer ärztlichen Kollegin sogar, die hatte im achtzehnten Lebensjahr eine richtig üble EBV-Infektion, hatte danach auch einen Hodgkin entwickelt, also nach EBV entwickele ich ja nicht nur MS, sondern kann auch Tumore entwickeln, und jetzt kam noch die MS dazu. Und das ist natürlich ein Musterbeispiel dafür. Also eine späte Entwicklung der EBV-Infektion und das wären zum Beispiel solche Kandidaten. Wenn man das verhindern könnte, dann haben wir schon eine höhere Wahrscheinlichkeit, dann werde ich wahrscheinlich arbeitslos.

Nele Handwerker: Na ja, du findest dann was, da mache ich mir keine Sorgen. Und genau, der Henri-Jacques Delecluse hat ja auch gesagt, 2 % aller Krebsfälle sind glaube ich….

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Genau, sind durch das EBV. Wir haben zwei Fokuserkrankungen, das sind die Immunerkrankungen und natürlich die Krebserkrankungen.

Nele Handwerker: Ja, insofern, immerhin attraktiv für die Pharmaindustrie, da zu forschen.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, und vielleicht klappt das ja mit den Impfstoffen. Schauen wir mal.

Nele Handwerker: Genau, wäre ja hübsch. Die meisten von uns haben Kinder, wir würden uns, glaube ich, freuen, wenn zumindest die nächste Generation davon verschont bleibt.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, das ist so ein bisschen wie mit dem HPV. Dadurch, dass ich diese HPV-Impfung mache, also das Humane Papillomvirus, sehen wir ja schon, dass deutlich weniger Gebärmutterhalskrebse auftreten, wenn ich das impfe. Wir sehen inzwischen auch bei Männern, dass das relevant ist, wenn die das nicht beherbergen und das ist zum Beispiel so eine Prophylaxe, die wir gerne hätten gegen EBV. Wo das dann ähnlich ablaufen würde. Und bei HPV haben wir das deutlich gesehen und man kann jedem nur sagen, dass ein Kind nicht zu spät gegen HPV geimpft werden sollte, weil dann auch weniger Impfungen notwendig sind, als wenn ich das später tun muss.

Nele Handwerker: Genau. Meine beste Freundin hat drei Jungs und mir auch gesagt, dass ihre Jungs alle gegen HPV geimpft werden. Verringert für uns Frauen das Risiko.

Wie werden Wearables dabei helfen, die MS besser im Blick zu behalten und schneller zu reagieren?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, ich glaube schon, dass sie ein großes Potential haben, dass sie mit digitalen Dingen, die die Patienten selbst durchführen, selbst messen können, dass das eine Rolle spielen wird, allerdings müssen wir uns klar sein, dass dahinter auch immer noch eine ganz schöne Entwicklungsarbeit steht. Natürlich, das Problem ist, ich habe natürlich mehr Daten und dann, wenn ich mehr und mehr Daten habe, ist natürlich die Relevanz der Daten entscheidend.

Wir haben Patienten gesehen, jetzt auch im Connect MS, die auf einmal viel mehr laufen, aber da war es nicht unsere gute Behandlung, sondern die neue Freundin. Also, das ist die Schwierigkeit. Ich glaube, dass das gutes Potential hat, aber natürlich müssen diese Dinge auch etabliert und validiert werden. Was nicht trivial ist. Also es kann nicht sein, dass ich einfach denke, ja ich zeichne da was auf und dann kann ich das für bare Münze nehmen. Ist leider nicht so, weil natürlich sehr viel Phasen auch mit aufzeichnen, wo ich nicht weiß.

Ein Beispiel haben wir heute gerade besprochen: ein Gerät, was zum Beispiel Herzfrequenz aufzeichnet. Dann weiß ich zum Beispiel nicht, wenn die Herzfrequenz hochgeht, ist das jetzt etwas Pathologisches oder bin ich einfach nur eine Treppe hochgegangen und habe das aufgezeichnet. Und das ist natürlich höchst relevant, wenn ich gerade in meinem Fernsehsessel liege und Schwarzwaldklinik schaue, wo natürlich nachweislich die Herzfrequenz erst einmal runtergeht, und ich kriege da meine Riesen-Herzfrequenzerhöhung, dann ist das natürlich dramatischer, als wenn ich in den zehnten Stock meines Plattenbaus hochgehe.

Da muss ich den Kontext der Daten sehen und da kann ich nicht einfach sagen: Herzfrequenzerhöhung ist Herzfrequenzerhöhung. Und genau das ist es beim Gehen auch. Das wird mitunter unterschätzt und viele denken, das wird das alles ersetzen. Da steht noch sehr viel Arbeit vor der Tür. Ich glaube schon, dass wir noch sehr viel lernen können. Und dann haben wir noch ein Problem, dass diese Dinge nicht jeden Patienten ansprechen. Wir haben natürlich auch einige Patienten, die sagen: oh, nee.

Alles was Technik ist, alles, was Auflader hat, ist nichts für mich. Und natürlich dürfen wir die auch nicht alleine lassen. Und da müssen wir sehen, wie kann man doch mit anderen Hilfsmitteln doch da was bewirken. Also da gibt es noch sehr viel zu tun und ja, da ist noch nicht so das erkennbar, was ist der Goldstandard und was sollte jeder Patient machen. Deshalb wird da ja auch noch viel Forschung gemacht und du bist ja auch mit dabei. Da müssen wir, glaube ich noch sehr viel lernen, auch von Patientenseite, von Arztseite, was da wirklich optimal ist.

Nele Handwerker: Ja, und ich gebe zu: Ich verfälsche das auch manchmal, wenn ich denke, oh Gott, ich muss die Woche das noch schnell machen und dann mache ich das vielleicht zu einer Uhrzeit, wo ich kognitiv nicht mehr so fit bin, und dann sehen natürlich meine kognitiven Tests auch – jetzt nicht schlechter – aber sie sind ein Müh schlechter, weil ich es abends um eins gemacht habe, kurz bevor ich ins Bett gehe, nachdem ich schon zwei Podcasts aufgenommen habe, was auch immer. Und das ist was anderes, als wenn ich das früh um zehn vielleicht, ich bin schon zwei Stunden wach, der Kaffee hat gewirkt, ich bin schon Rad gefahren.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Das ist was ganz anderes, ja.

Nele Handwerker: Unterschiede, absolut, ja. Du hattest vorhin schon erwähnt, dass es natürlich ganz wichtig ist, die Patienten zu erreichen, die vielleicht weit weg von einem Zentrum sind.

Werden quartalsweise Untersuchungen vor Ort noch Standard sein oder womöglich alternative Teleangebote die Art des Austauschs mit Arzt und Therapeuten verändern?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Man muss ja immer unterscheiden zwischen dem, was notwendig und was praktisch gegeben ist durch die Krankenkassen. Also, bei den Krankenkassen gibt es zum Beispiel Riesenprobleme, wenn ich jetzt in einem Quartal zum Beispiel keinen Kontakt zum Patienten hatte und ihm dann eine Verordnung gebe. Dann machen die Krankenkassen richtig Theater, sodass vieles dieser Dreimonatsregeln eigentlich uns vorgegeben wird, dadurch dass ich dann Medikamente oder eine Physiotherapie weiterverordnet haben möchte, dann wird das dann dadurch festgelegt, dass ich mit dem Patienten in Kontakt treten muss.

Ich glaube schon, dass das geht, ich glaube, dass das sehr individuell werden kann. Ich glaube, dass wir nicht jeden Patienten in Präsenz sehen müssen, wenn wir geeignete Tools haben. Also wir entwickeln jetzt zum Beispiel solche Symptomtools, wo ich als Patient dann viele Dinge klassisch, wo der Arzt in der Anamnese fragt, vielleicht standardisiert durchgeführt werden kann und dadurch auch noch objektiver sind, als wenn ich sie abfrage.

Also ich kann mir schon vorstellen, dass man das strecken kann. Aber ich glaube, dass zum Beispiel Dinge wir Blutabnahmen – wir haben ja gerade über die Biomarker gesprochen – das MRTs, dass die schon dazu führen werden, dass dies auch an spezifischen Orten geschehen muss. Ich glaube nicht, dass alles telemedizinisch geht, aber vieles schon. Wir sind jetzt auch so an Konzepten dabei, du kennst ja unsere Sprachanalystin, die unsere Sprachanalyseprojekte macht, die hat zum Beispiel jetzt ein telemedizinisches Projekt, das sich dann mit den Patienten zuhause durchführt. Also die Patienten sind zuhause und ich mache da die Sprachanalyse.

Ist so ähnlich wie beim Podcast. Das wird dann auf deinem Rechner aufgezeichnet dann gehen die sauberen Sprachfiles hin, damit der Übertragungsweg als Fehlerquelle ausgeschlossen wird. Also, da experimentieren wir schon, was man in der Häuslichkeit machen kann. Was kann man an Tests machen, dass wir eine Videokonferenz zum Beispiel so was wie Connect MS-Ergebnisse einspielen können und das mit dem Patienten dann besprechen können, wie sich da was verändert hat. Oder dass der Patient ein Tagebuch hat und dann kann man sich das genauso telemedizinisch ansehen.

Also ich glaube schon, dass das hybrider ablaufen kann. Dafür müssen wir dann aber auch erst mal klären, dass diese ganzen Krankenkassengeschichten, was ich gesagt habe, dass das geklärt wird. Nicht dass der Patient in dem Quartal keine Verordnung bekommen kann oder so. Aber ich denke schon, dass wir da ein individuelles adaptives System entwickeln, und ich glaube nicht, dass wir irgendwelche Standard-Pseudo-Besuche machen müssen, sondern da werden sich Systeme herauskristallisieren, gerade wenn wir andere Verfahren haben, dass man Präsenz – also dass man so ein hybrides Management sprich eine Kombination davon macht.

Aber das, was wir jetzt zum Beispiel schon machen. Ich sehe den Patienten persönlich immer noch das erste Mal und dann stelle ich ihm zum Beispiel Therapien vor und dann die nächsten Besprechungen machen wir alle digital. Um Fragen zu beantworten – das kann ich sehr gut über eine Videosprechstunde machen. Dann habe ich den Patienten einmal wirklich persönlich kennengelernt und dann kann ich die Nachbesprechungen, wenn ich das Blut abgenommen habe, was wichtig ist für die Therapieentscheidung, über Telemedizin lösen. Sobald ich aber natürlich Verfahren brauche, die die Präsenz fordern, ist das natürlich wieder etwas anderes.

Nele Handwerker: Ja, klingt absolut plausibel, genau.

Wie wichtig wird weiterhin die Mitarbeit der betroffenen Person bleiben, wenn es um eine gesunde Lebensweise mit Bewegung, geistigen Anregungen, Ernährung und Abstinenz vom Rauchen geht?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Na ja, die Bedeutung des Patienten gerade in der Erkrankung, die komplexer wird, wo auch innerhalb dieser Neurologenschar natürlich der Unterschied vom Spezialisten bis zu einem, der mal von was gehört hat, aber eigentlich zehn Jahre hinter den aktuellen Erkenntnissen ist, ist natürlich umso wichtiger. Das heißt, der Patient wird natürlich in seinen Entscheidungen, zu welchem Neurologen gehe ich, wird wirklich neurologisch das auch getan, was getan werden muss?

Das ist jetzt auch eine Sache, wo wir hoffentlich Ende dieses Jahres noch rauskommen – dass wir dem Patienten ein Tool geben, wo er selbst überprüfen kann, ob wirklich alles so läuft, wie es sein sollte. Werden die Untersuchungen durchgeführt, die notwendig sind, auch für meinen Typus? Wie ist das, werden Qualitätsindikatoren durchgeführt? Also insofern glaube ich, spielt da der Patient noch mehr eine Rolle, weil er noch mehr beurteilen muss, ob die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, ob er die wirklich auch erhält.

Und da haben wir ja schon zu Beginn gesagt, dass da doch einiges im Argen liegt und einiges auch optimiert werden könnten, und das ist natürlich der aktive Patient, der sich da ein Zentrum heraussucht. Aber umso wichtiger ist natürlich auch der Patient, der sich dann nicht nur passiv von einer Pharmakotherapie berieseln lässt oder regelmäßig etwas einnimmt, sondern da sind natürlich die anderen Punkte auch sehr wichtig. Die da eine Rolle spielen. Und da ist natürlich extrem entscheidend, dass man dafür auch sensibilisiert, dass man das auch klar macht. Ich glaube, es spielt eine sehr wichtige Rolle, auch die Umgebung des Patienten darauf aufmerksam zu machen, zum Beispiel ein Ehepartner, Kinder, Eltern je nachdem, was ich da für ein Setting habe.

Die vielfach ganz andere Vorstellungen haben, also es gibt immer noch viele Mütter, die denken – ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber: Ach Kind, das darfst du nicht machen und du sollst rohes Ei sein, und so weiter – und gerade bei der MS ist das Quatsch, sondern ich muss schon auch trainieren und an Grenzen gehen kennen und wenn ich da nur noch auf der Couch liege, dann ist das natürlich gerade bei so einer Erkrankung extrem kontraproduktiv. Und da ist natürlich auch die soziale Stimulation, das wissen wir selbst, jetzt auch wieder eine spannende Arbeit, jetzt nicht nach MS aber nach einem Schlaganfall.

Letztendlich entscheidet dort das Langzeitüberleben, wenn ich einen Schlaganfall habe, ob ich dann noch zehn Jahre lebe, das entscheiden nicht irgendwelche kardiovaskulären Risikofaktoren, sondern es entscheidet vor allem, ob du einen sozialen Kontakt hast, der sich kümmert. Sprich, wenn du im Altersheim in Isolation mehr oder weniger bist, mit nur Dementen, dann hast du eine relativ schlechte Prognose. Während wenn du in einem stimulierten möglichst Mehrgenerationen-Setting lebst, dann ist das wesentlich besser auch für das Outcome.

Und weil da natürlich auch Herausforderungen – es geht dir vielleicht manchmal auf die Nerven, aber ich glaube, das kennt jeder MS-Patient auch, dass es einem nicht immer gut geht und man auch nicht immer gerne diese Sachen macht, aber es ist extrem wichtig, dass diese Forderung nicht immer eine Überforderung, aber diese Herausforderung dort ist, weil die letztendlich auch unser Gehirn kitzelt und weil die auch Möglichkeiten freisetzt, zu kompensieren. Und ich glaube, das ist eine ganz wichtige Rolle, dass man als Patient aktiv wird und dass man weiß, man muss die Erkrankung selbst in den Griff bekommen.
Es ist keine passive Sache und die Aktivität, die zeigt sich von der Auswahl des Neurologen, von der Folge aktueller Diagnostik und Therapie bis hin dann zum Durchführen, auch von, ja, aktuellen Erkenntnissen, die man hat. Was ich motorisch machen kann, was ich an neuen Trainings machen kann. Wissen, dass auch Krafttraining eine Rolle spielt. Krafttraining hat man immer unterschätzt. Man muss nur Ausdauer machen, aber wir wissen ja sehr gut, dass ich eigentlich die Kombination von Kraft und Ausdauer haben muss und dass ich da einen guten Mix finde.

Ja und das bedeutet, dass ich als Patient wirklich am Ball bleiben muss und last but not least, deshalb sitzen wir heute auch hier, dass die Information entscheidend ist. Dass ich, wenn ich Argumente habe dafür, dass ich dann auch bereit bin, mein L zu ändern. Wir sind wieder beim Bauchgefühl. Wenn das Bauchgefühl sagt, hör mit dem Rauchen auf, dann ist wahrscheinlich das Bauchgefühl, dass man Rauchen sollte, größer. Wenn du aber zeigst zum Beispiel, dass du Gehirnatrophien im MRT misst, dass die doppelt so hoch ist – wir waren ja schon beim Espressolöffel, beim Teelöffel, dass das doppelt so hoch ist, wenn ich rauche, und MS habe.
Dann überlegst du dir schon, weil das ist dann nicht nur ein Esslöffel, sondern zwei, durch den additiven Effekt des Rauchens, und wenn du weißt, dass, wenn du aufhörst zu rauchen, dass dieser Effekt relativ schnell aufhört, dann sind das natürlich Argumente, die dafür sprechen, dem Glimmstängel abzuschwören.

Nele Handwerker: Ja, genau, und ein bisschen mehr rauszugehen und mich zu bewegen. Und zu dem mit dem rohen Ei: Ich kann mich noch daran erinnern, als ich meinen Tauchkurs gemacht habe, habe ich dich gefragt: Du, in meiner Familie, da gibt es ein paar Leute, die sagen: Um Gottes willen Nele, mach das nicht mit dem Tauchen mit MS. Da hast du gesagt, nö, also wenn der Lungenarzt sagt, alles gut – mach mal.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Das ist ja auch so ein bisschen das Mentale. Wenn du dir bestimmte Dinge herausnimmst und ich meine Nele, wir kennen ja genug spezielle Persönlichkeiten, die schon sehr extreme Dinge auch machen als MS-Patienten. Also es gibt manche, die fordern das echt auch heraus. Da bin ich immer skeptisch, aber solange sie glücklich sind und damit klar kommen – ich möchte auch dem Patienten keine Vorhaltungen machen und bin auch nicht der Arzt, der immer sagt, ne, ne, ne. Letztendlich muss man das selbst entscheiden und wir sind dann dafür da, dass man Warnhinweise gibt, wenn man sich dann überlastet.

Also wir haben auch schon Patienten, da muss man sagen, die einfach beruflich durchstarten, aber wo ich schon das Gefühl habe, das ist too much. Aber das ist dann wahrscheinlich nicht nur ärztlich mit der MS, sondern es hat generell zu tun, aber es ist meine Aufgabe, wenn ich merke, da liegt irgendwas im Argen, da anzumerken, das ist too much. Und das kann natürlich auch sein. Wir haben durchaus auch das too-much-Syndrom beim MS-Patienten. Es muss das richtige Maß sein.

Nele Handwerker: Ja, ja, dieses: Jetzt erst recht! Das ist – wenn das eine kurzzeitige Reaktion ist, dann finde ich das noch ganz okay, aber dauerhaft ist das nicht so gut.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, vor allem, wenn man so ein bisschen das Mentale hat. Dass man versucht, so eine Art Deal mit dem Teufel zu machen. Also ich mach ganz viel und dann passiert nichts. Und so weiter. Und das ist – das funktioniert bei der MS nicht. Ich kann da sagen, also ich kann da sagen, ich esse so gerne Schokolade – ich esse keine Schokolade mehr, dafür wird die MS stabil. Ja, also wahrscheinlich isst man keine Schokolade und die MS ist trotzdem nicht stabil, wenn ich nichts anderes mache. Das ist das Problem und da warne ich immer die Patienten davor, warne ich immer, dass man solche Deals eingeht, weil die wirklich, also die funktionieren im Märchen, aber im normalen L in der Regel nicht.

Nele Handwerker: Ja, genau. Gut, jetzt hast du uns einen sehr schönen Überblick gegeben.

Verabschiedung

Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, also ich möchte ihnen mit auf den Weg geben, dass sie auf jeden Fall die nächsten 200 Podcasts von Nele Handwerker weiter hören, weil diese Informationen extrem wichtig sind und ich glaube, man merkt jetzt auch, die Undercover-Aktion und auch im MS-Studiengang, dass man da systematisch einblickt und es mit einer systematisch denkenden und strategisch planenden Nele Handwerker zu tun hat, dann sollte man das wahrnehmen. Damit man dann einen guten Überblick bekommt.

Und zweitens, wirklich aktiv am Ball bleiben. Nicht alles so über sich geschehen lassen, sondern schon – da war heute in Berlin auch so ein Meeting über Digital Health, wo die Kollegen auch zu mir gesagt haben: Ja, ist es denn nicht so, dass die Patienten nicht fordern, also wenn ein Arzt zum Beispiel das mit dem MRT nicht anbietet, dass er dann zu einem anderen Arzt geht, und diese Situation haben wir noch nicht. Habe ich auch gesagt, weil einfach zu wenig Ärzte da sind und weil man dieses Druckszenario noch nicht machen kann, aber es muss schon in den nächsten Jahren passieren, dass bestimmte Standards, bestimmte Innovationen reinkommen und die muss man dann auch als Patient einfordern. Und wenn mit mir nichts passiert oder dann immer gesagt wird: Es gibt ja auch keine Rezepte, du brauchst keine Physiotherapie, alles gut. Also man abgespeist wird – das geht nicht. Gerade bei so einer Erkrankung. Ich habe es gerade zum Schluss noch mal gesagt, wie aktiv man sein muss, und das bezieht natürlich auch diese Dinge mit ein. Also, sich nicht zufriedengeben, sondern sowohl sich aktiv damit zu beschäftigen. Das bedeutet nicht, dass man mich nicht falsch versteht, dass man jeden Tag, 24 Stunden am Tag an die MS denkt.

Also Nele weiß, was ich sage. Es geht darum, dass man zu bewussten Zeitpunkten – wenn es geht, dann beschäftigt man sich mit der Erkrankung und sonst kann man auch sehr gut ohne die Erkrankung leben. Und das soll man auch tun. Aber Aktivität zu bestimmten Zeitpunkten – ich muss die Sachen machen, aber nicht ständig an die Erkrankung denken. Das sollte man nicht falsch verstehen. Aktivität bedeutet nicht, ich lebe nur noch für die Erkrankung, es gibt nur noch die Erkrankung, das ist genauso schädlich, wie wir ja schon gesagt haben. Also aktiv sein, aber nicht immer an die MS denken.

Nele Handwerker: Sehr schön, genau. Und jetzt mach doch bitte noch mal Werbung für eure schönen Informationsangebote.

Wo finden Interessierte mehr Informationen?

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja klar, wir haben natürlich, so wie bei dir auch mit den Podcast-Archiven, haben wir jetzt auch unser jetzt doch deutlich gefülltes Archiv – wir sind nicht ganz so produktiv, dafür haben wir immer die Long Extended Version, aber wir haben ja immer mit einem einstündigen Podcast angefangen. Jetzt kommen wir damit schon nicht mehr hin, weil wir doch einiges an Content haben. Da kann man, glaube ich, ganz gute Sachen finden. Jetzt auch wieder Dinge, die in Präsenz mit dabei sind und ja, wir haben ja auch – wollen wir mal nicht zu viel verraten – wir haben ja auch gemeinsam noch spannende Dinge vor, die dann in der nächsten Zeit entstehen sollen.

Ja, ich glaube, es ist schon wichtig, Informationen zu haben und vor allem auch aktuelle Informationen, aktuelle wissenschaftliche Dinge und das ist ja auch eine Sache, wo wir schauen werden, dass wir auch diese aktuellen Paper auch in deinem Podcast unterbringen können. Dass man da immer, vielleicht in regelmäßigen Abständen noch mal so eine Art Journal Club mit einführt, was du ja auch im Studium erlebst, dass man dann superaktuell sein kann, weil typischerweise dauert es ja doch länger, bis so ein Paper wirklich in der hintersten Ecke in Deutschland angekommen ist.

Nele Handwerker: Ja genau. Wenn es überhaupt ankommt. Ja, und ihr habt jetzt versucht, ganz schön aufzuholen mit Content im Rahmen der 360 Grad Aktion von A bis Z. Da habt ihr viele Videos veröffentlicht!

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Ja, vor allem haben wir jetzt die Buchstaben gelernt. Oh Gott, ich hatte es ja mit der Undine Proschmann zusammen gemacht. Sie hat vor allem die Arbeit gemacht, mir ist auch wichtig im Zentrum, dass wir das wirklich auch als Team machen und dass man das wirklich teilt und alle dabei sind. Und wir haben da auch schon interessante Begegnungen gehabt. Also zum Beispiel auch beim Herrn Prof. Dr. Reichmann mit 3D in der Gynäkologie, wie gesagt, Z wie Zahn wird, ist auch spannend. Ich glaube, das ist wichtig, dass wirklich auch deutlich macht, für die Patienten.

Aber was wir gelernt haben, es ist jetzt auch für die Beteiligten bei uns im Uniklinikum – sehen wir erst mal, wer daran beteiligt ist und es hat jetzt nicht nur den Effekt, dass MS-Patienten sehen, wie komplex es ist, sondern ich fand es sehr spannend, dass auch die Nicht-MS-Patienten, dass die Interessierten auch bei uns im Krankenhaus, dass die überhaupt mal darauf aufmerksam wurden, dass das ein Thema ist und was da auftritt. Und das ist, glaube ich, auch wichtig. Wir wollen natürlich MS-Patienten alles erleichtern, verbessern, möglichst optimieren. Aber wir wollen natürlich auch in der Gesellschaft über die MS informieren, dass es da MS-Patienten einfacher haben und dass diese Hirngespinste, die zum Teil über MS-Patienten existieren, wie Muskelschwund – das wir da aufräumen und auch im medizinischen Bereich.

Dass auch die Hausärzte damit umgehen können und dass nicht irgendwelche komischen Entscheidungen gefällt werden. Und das ist, glaube ich, sehr wichtig, dass wir da an alle denken, vor allem an die Patienten, aber wir brauchen auch eine Gesellschaft, die MS als Erkrankung kennt. Jetzt ist auch wieder der MS-Tag, und es ist gut, wenn die Gesellschaft auch mit in den Kampf gegen die Erkrankung in den Ring steigt.

Nele Handwerker: Genau. Super. Tjalf, ich danke dir. Wir haben noch keinen nächsten Podcast geplant, aber ich bin sicher, er kommt bald, spätestens zu Folge 300.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: Oder 250. Schauen wir mal.

Nele Handwerker: 250 genau. Vielleicht auch schon vorher.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen: In deiner Geschwindigkeit ist das dann ja wahrscheinlich im Oktober, oder?

* Dieser Text enthält Affiliatelinks. Das bedeutet, dass ich eine kleine Vergütung bekomme, wenn du das von mir empfohlene Produkt über den Link erwirbst. Für dich ändert sich dadurch nichts am Kaufpreis. Und mir hilft es dabei, die Kosten für den Blog zu tragen und neue Beiträge zu schreiben.

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